100 Jahre Wiener Kongress: Ein bisschen Frieden
Eberhard Straub schreibt über den Wiener Kongress, dass er eine Ordnung in Europa schuf, die bis 1914 hielt. Einige Daten sprechen gegen diese These
Die Handlung dieses Buches spielt zwischen zwei global ausgetragenen Kriegen: den Napoleonischen und dem Ersten Weltkrieg. In den hundert Jahren zwischen dem Wiener Kongress 1814/15 und dem Beginn des ersten der beiden Weltkriege versuchte sich Europa eine Neuordnung zu geben. Diesen Versuch analysiert Eberhard Straub. Der Berliner Historiker, Journalist und Autor, hervorgetreten bereits mit Werken zur Geschichte Preußens, des Deutschen Reiches, Spaniens, Österreich-Ungarns und Russlands sowie zur Weltgeschichte im 20. Jahrhundert, erzählt sehr anschaulich und auch für den historischen Laien gut nachvollziehbar, wie vor 200 Jahren das Konzert der fünf Großmächte Russland, Preußen, Österreich, Frankreich und Großbritannien, das europäische Staatensystem, wie es seit den Friedensschlüssen von Utrecht 1713 und Rastatt 1714 bestand, erneuert wurde, nachdem es durch die Französische Revolution und nachfolgend durch Napoleon Bonaparte zerstört worden war.
Straub erinnert daran, dass der Ursprung dieses alten und dann 1814/15 erneuerten Staatensystems bis zum Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück 1648 zurückreicht, an dem allerdings Russland nicht beteiligt gewesen war. Dem Wiener Friedenswerk gelang nach Straubs Urteil eine „schöpferische Restauration“, eine neue Ordnung Europas aus dem Geist der alten, vorrevolutionären Welt. Diese Ordnung habe sich dann im Ersten Weltkrieg aufgelöst. Und in der Tat: Europa geriet 1914 in seine größte Krise seit der Französischen Revolution. Auch weist Straub zu Recht darauf hin, dass die europäischen Staaten 1919 zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht alleine über ihre und die Zukunft Europas bestimmen konnten. Unfähig, einen „Frieden ohne Sieger und Besiegte“ zu finden, hätten die ratlosen Europäer die USA um Vermittlung und Hilfe gebeten. Sie hätten endgültig an ihrer herkömmlichen, in der Vergangenheit so oft bewährten Staatsvernunft gezweifelt, der sie allerdings schon im Jahrzehnt vor 1914 nicht mehr vertraut hätten.
Die Siegermächte gingen glimpflich mit Frankreich um
Die Lage 1814 sah hingegen noch ganz anders aus: Straub schildert, wie die in Wien versammelten Monarchen und Diplomaten nichts so sehr fürchteten wie die breiten, schwammigen Begriffe Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit, Selbstbestimmung und Menschenrechte, in deren Namen französische Revolutionäre ein knappes Vierteljahrhundert zuvor den vollständigen Umsturz in Europa begonnen hatten, den Napoleon dann vollendete, indem er die Revolution erstickte. Das verschaffte ihm nach Straubs Wahrnehmung das Ansehen, trotz seiner imperialen Politik, die Europa vollständig verändert habe, ein Mann der Ordnung zu sein, der zur Vernunft gebracht werden könne. Doch Napoleon wurde nicht „vernünftig“ – trotz des Desasters seines Russlandfeldzugs 1812. Die Völkerschlacht von Leipzig ein Jahr später war nötig, um ihn erst militärisch und dann auch politisch in die Knie zu zwingen – vorerst: Die endgültige Niederlage 1815 bei Waterloo stand noch bevor.
Straub bezeichnet die Behandlung Frankreichs nach Napoleons Abdankung 1814 als insgesamt glimpflich. Die Siegermächte Großbritannien, Österreich, Russland und Preußen hätten nicht an die Vergangenheit mit ihren Schrecknissen, sondern an die Zukunft gedacht: „Ein nicht versöhntes Frankreich würde Europa nicht zur Ruhe kommen lassen und die Revision eines Vertrages planen, der seine Ehre und Würde als Großmacht empfindlich verletzte.“ Deshalb habe Frankreich geschont werden und Gelegenheit erhalten müssen, als gleichberechtigtes Mitglied im europäischen Konzert eine unentbehrliche Rolle zu spielen. Entsprechend enthielten sich die Siegermächte auf dem Wiener Kongress auch jedes moralischen Urteils.
Daraus hervor ging nach Straubs Darstellung ein erstes System kollektiver Sicherheit. Dieses Konzert der Mächte sei zwar manchmal gestört und uneins gewesen, aber es habe sich immer wieder zusammengefunden. Es sei in der Lage gewesen, Verstimmungen zu beseitigen und allen Europäern, gerade den kleinen Staaten, die Gewissheit zu vermitteln, in dieser Gemeinschaft europäischer Staaten nicht übervorteilt zu werden. Die Wiener Ordnung sei flexibel gewesen und auch später nicht durch die nationale Einigung Italiens 1861 und Deutschlands 1871 infrage gestellt worden.
Ob allerdings „hundert Jahre Frieden in Europa“, deren Grundlage auf dem Wiener Kongress 1814/15 gelegt worden sei, wie Straub zu Beginn seines Werks betont, wirklich erst während der Julikrise 1914 endeten, ist dann doch zu bezweifeln: Die auf dem Kongress angelegte Ordnung konnte weder den Krimkrieg 1853–1856 zwischen Russland und dem Osmanischen Reich und seinen Verbündeten Großbritannien, Frankreich und dem Königreich Sardinien noch den Deutsch-Dänischen Krieg 1864 noch den Deutschen Krieg 1866 zwischen Preußen und Österreich noch den Deutsch- Französischen Krieg 1870/71 noch die Balkankriege 1912/13 verhindern.
Vielmehr erschütterten bereits diese Kriege das fragile, auf dem Wiener Kongress mühsam verhandelte Gleichgewicht der Mächte und waren damit Vorläufer des Ersten Weltkriegs. Eine länger andauernde Friedensphase sollte Europa erst ab 1945 erleben – aber auch dann immer wieder durchbrochen durch die mit militärischer Gewalt niedergeschlagenen Aufstände gegen die sowjetische Unterdrückung Osteuropas in der DDR, in Ungarn und in der Tschechoslowakei, gefolgt von den Kriegen in Bosnien und im Kosovo in den 90er Jahren, in Georgien 2008 und heute in der Ukraine. So friedlich, wie immer wieder dargestellt, ist Europa weder nach 1814/15 noch nach noch nach 1945 gewesen.
Eberhard Straub: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 255 Seiten, 21,95 Euro.