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Dem Tod entkommen. Kriegsgefangene englische Soldaten in Frankreich, April 1917. Mehr als 60 Millionen Menschen wurden für diesen Krieg weltweit mobilisiert. Fast neun Millionen Soldaten sind gefallen.
© Stiftung Deutsches Historisches Museum

100 Jahre Erster Weltkrieg: Und die Massen marschierten

Aus Angst vor dem „großen Krieg“ rüsteten die europäischen Großmächte auf - und machten diesen damit überhaupt erst möglich. Wie es zu dieser paradoxen Situation kam und wie sie eskalierte, erklärt Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem Gastbeitrag.

Im Prinzip war vor 1914 allen klügeren Beobachtern wie Akteuren klar, dass ein großer Krieg in Europa im wirtschaftlichen und sozialen Ruin des Kontinents und im Verlust seiner weltbeherrschenden Stellung enden würde. Einen solchen großen Krieg hatte es in Europa seit dem Ende der napoleonischen Kriege und der politischen Neuordnung des Kontinents im Wiener Kongress nicht mehr gegeben: Die zwischen 1815 und 1914 hier geführten Kriege waren – wie die Reichseinigungskriege von 1866 und 1870/71 oder die des italienischen Risorgimento – räumlich und zeitlich begrenzt.

Demgemäß ist es vor 1914 auch gelungen, die aus dem Zerfall des Osmanischen Reichs resultierenden Balkankriege auf Südosteuropa zu begrenzen. Der Leitimperativ der politischen Ordnung Europas lautete also, dass Kriege nach Möglichkeit an der europäischen Peripherie zu führen und dass sie vor allem zu lokalisieren und zeitlich zu begrenzen seien, damit aus ihnen kein „Flächenbrand“ entstünde.

Von der politischen Linken bis zu den Konservativen fürchtete man einen Erschöpfungskrieg, der das europäische Zentrum erfasste und sich über Jahre hinzog. Es gab nur wenige Stimmen, die den Krieg als moralischen Erneuerer der Gesellschaft feierten und ihn nach den Jahrzehnten des Friedens für erforderlich hielten. In der retrospektiven Literatur sind diese vereinzelten Stimmen jedoch immer wieder zitiert worden, so als hätte es damals ein allgemeines Warten auf den Krieg gegeben. Doch davon kann nicht die Rede sein. Die Auflagenzahlen der den Frieden befürwortenden Bücher übertrafen die der belligerenten um ein Vielfaches.

Der Rüstungswettlauf machte einen Erschöpfungskrieg erst möglich

Die Furcht vor dem großen Erschöpfungskrieg in Europa hatte eine paradoxe Konsequenz: Um ihn zu vermeiden, arbeiteten die Generalstäbe sämtlicher europäischer Großmächte – mit Ausnahme Großbritanniens – Pläne für kurze Kriege aus, die nach wenigen Wochen in einer großen Entscheidungsschlacht enden sollten. Aber ein Niederwerfungs- anstelle des Erschöpfungskrieges war nur zu führen, wenn man schnell und offensiv operierte. Das galt nicht nur für den Schlieffen-Plan der Deutschen, der keineswegs bloß eine Antwort auf die Herausforderung des Zweifrontenkriegs darstellte, sondern vor allem einen langen Erschöpfungskrieg vermeiden sollte. Auch der französische Plan XVII war offensiv und sah für den Kriegsfall einen Durchbruch von Lothringen aus durch das Zentrum der deutschen Front und einen Vorstoß zu Rhein und Ruhr vor, wo man durch die Ausschaltung der deutschen Schwerindustrie den Krieg beenden wollte.

Der russische Plan 19 lief darauf hinaus, dass nach Ausschaltung der Flankenbedrohung aus Ostpreußen und Galizien die russischen Truppen über die schlesischen Industriereviere auf Berlin und Wien vorstoßen und durch die Bedrohung der Hauptstädte den Krieg beenden sollten. Selbst der Kriegsplan der schwächsten Kontinentalmacht, Österreich-Ungarns, setzte auf ein offensives Vorgehen gegen die Russen, deren Divisionen noch während des Aufmarschs in Russisch-Polen zerschlagen werden sollten, so dass deren zahlenmäßige Überlegenheit nicht zum Tragen kommen konnte.

Um dieser Offensivdoktrin genügen zu können, brauchte man jedoch leistungsfähige, gut ausgerüstete Truppen in einer entsprechenden Stärke, und um deren Bereitstellung sorgte man sich verstärkt in den Jahren vor 1914. Daraus erwuchs eine weitere Paradoxie: Um den Erschöpfungskrieg zu vermeiden, trat man in einen Rüstungswettlauf ein, der einen Erschöpfungskrieg erst möglich machte.

Kriegserklärungen folgten in rasender Eile aufeinander

Das Verhängnis der Offensivpläne bestand vor allem darin, dass sie das Zeitfenster, während dessen die Politik eine Krise bearbeiten konnte, dramatisch verengten. Sobald die erste Großmacht die Mobilmachung anordnete, mussten die anderen folgen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Vor allem das Deutsche Reich als Macht in der Mitte Europas stand dadurch unter forciertem Zeitdruck. Der Schlieffen-Plan gründete darauf, dass sich durch eine perfekte Organisation des Aufmarschs gegenüber Franzosen und Russen die Zeit gewinnen ließ, die es erlaubte, zunächst die Franzosen zu besiegen, bevor das Gros der Truppen an die Ostfront verlegt wurde.

Nachdem sich der Gang der Beratungen und Entscheidungen seit dem Attentat in Sarajewo am 28. Juni 1914 in einer fast unerträglichen Langsamkeit hingezogen hatte, überschlugen sich Ende Juli die Ereignisse: Jetzt folgten Mobilmachungsbefehle und Kriegserklärungen in rasender Eile aufeinander, und das hatte weniger mit einem politisch geplanten Agieren, sondern mit organisatorischen Zwängen zu tun. Die Politik hatte abgedankt; jetzt bestimmten die Aufmarschplaner der Generalstäbe das Geschehen. Alle politischen Versuche, wieder Einfluss auf den Gang der Dinge zu bekommen, prallten ab an den ehernen Vorgaben der Aufmarschpläne.

Es war dies eine Besonderheit des Ersten Weltkriegs, die aus der Bewegung von Millionenheeren, ihrer Versorgung, ihrem gewaltigen Munitionsverbrauch und ihrem industriell gefertigten Kriegsmaterial erwuchs. Das Kriegsgeschehen bekam die Schwerfälligkeit der großen Massen, die ein schnelles Umsteuern verhinderte.

Die bürgerliche Sinnstiftung und die politischen Kalküle

Gleichzeitig war dieser Krieg der erste, in dem die bürgerlichen Mittelschichten eine zentrale Rolle spielten – nicht nur, weil sie als Kriegsfreiwillige massenhaft „zu den Fahnen“ drängten und weil der Einsatz ihrer Vermögen in Form von Kriegsanleihen unverzichtbar war. Aus den bürgerlichen Kreisen erfolgte auch eine Sinnstiftung des Krieges, die weit hinausging über die politischen Kalküle im Umgang mit militärischer Gewalt. Es waren bürgerliche Intellektuelle, die die Begründung lieferten, warum jeder in diesem Krieg Opferbereitschaft mit Selbsthingabe zu verbinden habe und dass es dabei nicht um kleinliche politische Ziele, sondern um die moralische Erneuerung der Gesellschaft – wenn nicht die Zukunft des Menschengeschlechts – gehe. Auch darin unterschied sich dieser Krieg von früheren.

Die lange Dauer des Krieges lässt sich kaum erklären, ohne dass man diese Sinnstiftungen mit in Betracht zieht. Die politische Rationalität zumindest der Kontinentalmächte hätte nämlich im Spätherbst 1914 nahegelegt, Waffenstillstandsgespräche aufzunehmen und den Krieg zu beenden: Alle von den Generalstäben ausgearbeiteten Pläne für eine schnelle Entscheidung waren fehlgeschlagen, und die Fortsetzung des Krieges musste zwangsläufig zu dem führen, was man unter allen Umständen hatte vermeiden wollen: zum großen europäischen Erschöpfungskrieg, an dessen Ende es nur noch Verlierer geben würde.

Je länger der Krieg dauerte, desto weniger würde der militärische Gewinner in der Lage sein, aus seinem Erfolg politische Stärke und wirtschaftliche Prosperität zu gewinnen. Dass diese Vorstellung nicht zum Zuge kam, hatte sicherlich viele Gründe. Einer der wichtigsten aber war die bürgerliche Sinnstiftung und der mit ihr verbundene Opfergedanke, der aus den toten Soldaten der ersten Kriegsmonate sakrifizielle Opfer machte, deren Heldentod die Nation verpflichtete, den Krieg bis zum Sieg weiterzuführen.

Nach dem kurzen Weihnachtsfrieden von 1914 ging das Töten weiter

Aber warum eigentlich haben die Soldaten weitergekämpft, als sich der Krieg immer länger hinzog und in den Grabenkämpfen und Materialschlachten die anfängliche Siegeszuversicht allmählich erodierte? Der Opfergedanke veränderte darüber seinen Charakter: Aus der Vorstellung vom Selbstopfer als rettender Tat – sei es für die unmittelbaren Kameraden, sei es für die Größe und den Ruhm des Landes – wurde mehr und mehr die Vorstellung eines hilf- und wehrlosen Ausgeliefertseins gegenüber der Vernichtungsmaschinerie, der man irgendwann zum Opfer fallen würde.

Der Stellungskrieg an der Westfront, bei dem zigtausende Soldaten getötet wurden, um ein paar hundert Quadratmeter Geländegewinn zu erzielen, hatte eine große Desillusionierung gegenüber den anfänglichen Versprechen und Erwartungen zur Folge. Warum also haben die Soldaten weitergekämpft und sind nicht in einen „Kampfstreik“ getreten, bei dem sie der militärischen Führung den Gehorsam verweigerten und das Kämpfen beendeten?

Nimmt man die Geschichte des Ersten Weltkrieges etwas genauer in Augenschein, zeigt sich, dass es durchaus Kampfstreiks gegeben hat: Da war der kurze Weihnachtsfrieden von 1914, als an einigen Abschnitten der Westfront Deutsche, Franzosen und Briten während der Weihnachtstage nicht aufeinander schossen, sondern im Niemandsland Geschenke austauschten und gemeinsam Lieder sangen. Aber diese Unterbrechung des Krieges wurde auf beiden Seiten bald beendet, und danach ging das Töten und Sterben weiter.

Bald gab es viele Kampfstreiks – nur bei Briten und Deutschen nicht

Als Kampfstreik lässt sich aber auch das massenhafte Desertieren vor allem tschechischer Einheiten im Verband des österreichisch-ungarischen Heeres verstehen, die nicht gegen ihre „slawischen Brüder“ kämpfen wollten und zu den Russen überliefen. Auch bei der großen Bereitschaft eben noch tapfer kämpfender russischer Soldaten, sich zu ergeben, wenn sie den Eindruck hatten, ihre militärische Führung habe versagt, handelte es sich um eine Form des Kampfstreiks. Das gilt auch für die Italiener, die im Herbst 1917 nach dem Zusammenbruch der Isonzofront massenhaft kapitulierten. Und eine Form des Kampfstreiks war es auch, als nach dem Scheitern der Nivelle- Offensive im Frühjahr 1917 mehrere Dutzend französische Divisionen meuterten und sich weigerten, zu weiteren Offensiven anzutreten.

Nur bei Briten und Deutschen – bei Letzteren jedenfalls bis zum 8. August 1918 – hat es solche Kampfstreiks nicht gegeben. Warum? Die Briten konnten darauf hoffen, dass die Handelsblockade endlich Wirkung zeitigen und der Materialzufluss aus den USA den Ausschlag geben würde, während bei den Deutschen ein schnelles Lernen und eine Fülle taktischer Innovationen die Vorstellung beförderte, man könne den Krieg doch noch gewinnen. Das hielt bis ins Frühjahr 1918 an, als nach großen Anfangserfolgen die deutschen Offensiven stecken blieben und sich das Eingreifen US-amerikanischer Soldaten immer stärker bemerkbar machte.

Die Lernfähigkeit der Deutschen hatte unglückselige Folgen: Sie verschaffte nicht nur der Dolchstoßlegende Plausibilität, wonach das „im Felde unbesiegte“ Heer einem Stoß in den Rücken aus der Heimat erlegen sei, sondern sie wurde auch zur Grundlage für die Führung des Zweiten Weltkriegs: Hitlers Generäle stammten nahezu alle aus den Reihen derer, die als Offiziere im Ersten Weltkrieg immer neue Taktiken erprobt hatten.

Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918“ (Rowohlt Berlin).

Herfried Münkler

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