Christine Anlauff schreibt an Theodor Fontane: "Effi ist eine psychisch labile Hysterikerin"
Die Potsdamer Schriftstellerin Christine Anlauff fühlt in ihrem Brief an Theodor Fontane der psychischen Verfassung von Effi Briest auf den Zahn.
Sehr geehrter Herr Fontane,
seit fast 30 Jahren schiebe ich diesen Brief nun schon vor mir her. Einerseits, weil ständig etwas dazwischenkam, zweitens, weil es ein Beschwerdebrief ist.
Auf die Gefahr hin, mir als Brandenburgerin und noch dazu Berufskollegin von Ihnen einen Satz heiße Ohren einzufangen, gestehe ich, dass ich bislang nur zwei Werke aus Ihrer Feder gelesen habe. Eins davon immerhin aber sogar freiwillig!
Mit vierzehn klaubte ich, auf der Suche nach neuer Lektüre, „Irrungen und Wirrungen“ aus dem Bücherschrank meiner Mutter und las den Roman in einem Zug durch. Er besaß alles, was ein pubertätsverwirrtes Mädchen wie mich verzauberte: Eine ebenfalls junge Heldin, eine leidenschaftliche aber unmögliche Liebesgeschichte und ein idyllisch-historisches Setting. (Pardon, aber auch in meiner Jugend waren Ihre Romane schon historische.)
Nach „Irrungen und Wirrungen“ hätten wir gute Freunde werden können, lieber Herr Fontane. Doch dann kam „Effi Briest“!
Um Ihnen kein Unrecht zu tun: Dass sich Fräulein Briest zum literarischen Trauma meiner Spätjugend entwickelte, liegt nicht nur an Ihnen. Sondern vor allem an der Penetranz, mit der man mich mit ihr geißelte. Als ausgebildeter Apotheker stimmen Sie mir sicher zu: Die Dosis macht das Gift!
Denn beim ersten Mal las ich „Effi“ noch relativ unbeschadet als Unterrichtslektüre in der Oberschule. Nur zwischenzeitlich langweilte ich mich ein bisschen und blieb am Ende ratlos zurück, weil mir keine Diagnose für Effis mysteriöse letale Krankheit einfiel, egal wie ausgiebig ich den hauseigenen Pschyrembel wälzte. Von Herzinfarkt aufgrund von gebrochenem Herzen hatte ich noch nie gehört. Dennoch beantwortete ich brav die Fragen zum Inhaltsverständnis, deklarierte den Roman erwartungsgemäß als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und vergaß ihn.
Beim zweiten Mal verspürte ich dagegen schon einen leichten Groll. Wir schrieben das Jahr 1989, ich war im ersten Ausbildungsjahr zur Buchhändlerin in Leipzig, und um uns herum zerbrach gerade der Staat, in dem meine Mitlehrlinge und ich aufgewachsen waren.
Vielleicht verstehen Sie, dass ich vor diesem Hintergrund nur ein sehr marginales Interesse für Effis Angst vor Hausgeistern und ihre vergebliche Suche nach sinnvollen Beschäftigungen aufbrachte. Und der anschließende Aufsatz, in dem wir die Ursachen der Ehetragödie im Hause Innstetten erklären sollten, erschien mir angesichts der brodelnden politischen Lage geradezu als Affront!
Lagen diese Ursachen denn außerdem nicht auf der Hand?
Was erwartet man denn, wenn eine romantische Minderjährige einen überkorrekten, wenngleich freundlichen Landrat heiratet, der ihr Vater sein könnte. Dazu das Landleben – auch nicht jedermanns Sache, wenn man keine Ader fürs Gärtnern hat. Wenn dann noch ein aufdringlicher Galan auf der Bühne erscheint und der Ehemann einen antiquierten Ehrbegriff und ein Set Duellpistolen besitzt, ist die Katastrophe doch vorprogrammiert! Ich schrieb es entrüstet in meinen Aufsatz, während unweit unseres Internats Montagsdemonstranten durch die Leipziger Straßen zogen, erhielt zu meiner Überraschung eine Eins und hoffte, Effi endlich los zu sein.
Tja, lieber Herr Fontane. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber sie stirbt.
Nur zwei Jahre später, unsere Republik war inzwischen Geschichte (ein sozialistischer deutscher Staat namens DDR, Sie können ihn googeln), landete ich in einem Ausbildungslager unserer ebenfalls in Auflösung befindlichen Volksarmee, wo man neuerdings das Abitur nachholen konnte. Und womit beglückte uns unsere Deutschlehrerin schon in der ersten Unterrichtswoche?! Ja. Selbst die Fragestellung für den anschließenden Aufsatz war die gleiche wie in Leipzig.
Leider hatte ich meinen glorreichen Einser- Aufsatz längst weggeworfen.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich mich also zum dritten Mal durch Effis Trostlosigkeit, denn auch die hatte ich erfolgreich verdrängt. Entschuldigen Sie meine Offenheit, lieber Herr Fontane: Ich langweilte mich tödlich. Effi packte zum dritten Mal Taschen aus und ein, plante Reisen, die sie wieder absagte, ein Doktor Hannemann wurde wegen eines vom Pferd getretenen Stallknechts gerufen. Wenn ich es nicht mehr aushielt, griff ich zu Sigmund Freuds „Psychoanalyse“, die ich kurz vor „Effi“ zu lesen begonnen hatte. (Freud bitte googeln, seine „Psychoanalyse“ erschien in Ihrem Todesjahr.)
Und über der doppelten Lektüre ging mir plötzlich ein Licht auf!
Es liegt nicht am Altersunterschied! Und es liegt nicht am desaströsen Ehrbegriff des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dass es am Ende Ihres Buches zwei Tote gibt. Es liegt an den Persönlichkeiten der Figuren!
Aus medizinischer Sicht ist Effi eine psychisch labile, zu Angstneurosen neigende Hysterikerin. Daran hätte sich auch nichts geändert, wenn sie Innstetten mit 30 geheiratet hätte. Und Innstetten muss ihrer latent müde gewesen sein, wenn er so stoisch auf Duell und Scheidung bestand. Zur Spielzeit der „Effi“ waren Duelle schon heftig umstritten, außerdem wusste außer den drei Beteiligten ja niemand von der verjährten kleinen Liaison! Wenn ihm irgendetwas an Effi gelegen hätte, wären die kompromittierenden Briefe in den Kamin gewandert und gut.
Aber dann hätte die Tragödie gefehlt, nicht wahr?
Und der Kick der Authentizität. Denn wie ich von einer jüngst besuchten Ausstellung zu Ihrem 200. Geburtstag weiß, beruht „Effi“ auf einem wahren Fall, der Ihrerzeit angeregt diskutiert wurde. Auch dort gab es ein tödliches Duell nach einer Affäre. Allerdings kein Ehepaar mit 21 Jahren Altersunterschied und kein Dahinscheiden der verstoßenen Untreuen an gebrochenem Herzen. Die Original-Effi wurde 99 Jahre alt!
Hätten Sie das Ihrem Roman nicht in einem Nachwort hinzufügen können? Dann wäre meinen Altersgenossen und mir viel erspart geblieben!
Apropos Altersgenossen: Unlängst brachte meine 18-jährige Tochter einen Roman nach Hause, den sie für den Deutschunterricht lesen sollte…
Ich hoffe, mein Schreiben hat Ihnen nicht die Stimmung verdorben, lieber Herr Fontane. Aber was das betrifft, bin ich guter Hoffnung, Sie stehen ja schon lange über allen weltlichen Kritteleien. Und wie gesagt, sind Sie für mein „Effi“- Trauma nicht allein verantwortlich. Die Dosis – Sie wissen schon.
Lassen Sie es sich wohl gehen da oben.
Herzliche Grüße
Ihre Christine Anlauff
P. S.: Die Ballade von John Maynard hat mir sehr gefallen. Ich kann sie immer noch auswendig.
Es schreibt heute: Christine Anlauff. Die Potsdamer Schriftstellerin brachte 2005 ihren Debütroman „Good morning Lehnitz“ heraus, zehn Jahre später schrieb sie einen Krimi, in dessen Mittelpunkt die Garnisonkirche steht.
>>Nächste Woche schreibt Kurt Winkler, Direktor des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte.
Alle Folgen der Serie „Briefe an Fontane“ anlässlich seines 200. Geburtstages lesen Sie auf www.pnn.de/themen/fontane
Christine Anlauff