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Wörter sammeln, um gewappnet zu sein: Die Schriftstellerin Dilek Güngör, 1972 in Schwäbisch Gmünd geboren.
© Ingrid Hertfelder/Verbrecher Verlag

Dilek Güngörs Roman "Vater und ich": Die Sprache des Schweigens

Wann haben wir aufgehört, miteinander zu reden? Dilek Güngör erkundet in ihrem Roman „Vater und ich“ eine Vater-Tochter-Beziehung.

Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen von Vätern in der Literatur wie im richtigen Leben, dass sie ihre Kindheit und Jugend entweder idealisieren, als das Paradies schlechthin beschreiben – oder sich darüber ausschweigen und nur mit spärlichsten Worten erwähnen.

Der Vater in Dilek Güngörs neuen Roman „Vater und ich“ (Verbrecher Verlag, Berlin 2021. 101 S., 18 €.) zählt zur letzteren Sorte, auch weil er sich grundsätzlich gern in Schweigen hüllt.

Weshalb seine Tochter nur wenig über die Umstände weiß, die ihn im Alter von 21 Jahren aus der Türkei nach Deutschland haben kommen lassen.

„Ich wollte nicht im Dorf bleiben“, mehr sagt er dazu nicht. Sie wiederum hat hier was von der Mutter gehört, dort was von ihren Tanten, hat Filme geschaut, Bücher gelesen wie Yasar Kemals „Ince Memed“, vielleicht auch Paul Geiersbachs „Wie Mutlu Öztürk schwimmen lernen muss“, oder sich mit den Eltern anderer Gastarbeiter unterhalten.

„Wenn ich all das zusammentrage, was ich gehört, gelesen, gesehen habe, kommt diese Geschichte dabei heraus: Du bist von zuhause weggelaufen, weil du nicht weiter zur Schule gehen durftest, auf den Feldern arbeiten solltest, Pistazienbauer werden und Pistazienbauer bleiben, wie alle anderen auch.“

Alltäglicher Rassismus war eine Erfahrung

Dilek-Güngör-Leser:innen kennen diese fiktiv ausgepolsterte Geschichte allerdings ganz gut, denn die Autorin hat sie schon in ihrem Vorgänger-Roman „Ich bin Özlem“ erwähnt. Aber auch in ihren regelmäßigen Kolumnen in der „Berliner Zeitung“ und in der „Zeit“.

Diese handeln von ihrem Leben in Berlin, dem ihrer türkischen Familie und insbesondere ihrer Eltern, die vor der Geburt der Tochter 1972 in den späten sechziger Jahren als sogenannte Gastarbeiter in die Bundesrepublik nach Schwäbisch Gmünd kamen. Über zwanzig Jahre arbeiteten sie in derselben Fabrik.

Hier die türkische Kultur, dort die deutsche, hier das Fremdeln der Eltern in dem anderen Land , dort der alltägliche Rassismus, dem auch die junge Dilek Güngör ausgesetzt ist, hier der Versuch, den Erwartungen der Herkunftsfamilie gerecht zu werden, dort die Emanzipierungsbestrebungen.

Und hier das Türkisch, das sie zuhause spricht, dort die Sprachen, die für sie neben dem Deutschen hinzukamen, Englisch, Spanisch, und eine immer größere Faszination ausübten – um all das geht es in den Kolumnen und den beiden jüngsten Romanen. (Güngör debütierte nach einem ersten Kolumnenbuch 2007 mit dem Roman „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“).

Allein eine Bezeichnung für sich selbst für den Alltagsgebrauch zu finden, stellt eine Herausforderung dar, weil sie alle nichts taugen, ob Deutsch-Türkin oder Türkin mit deutschem Pass, ob eingebürgerte Türkin oder Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund.

Literarischer Zugriff

Im Subtext schwingt dabei natürlich die Frage mit: Muss es überhaupt eine Bezeichnung geben, sind es nicht alles überflüssige Zuschreibungen, Selbstzuschreibungen?

In ihrem Roman „Ich bin Özlem“ erzählte Güngör davon, wie schwer es ist, sich davon zu lösen. Zumal sie sich gerade den in Deutschland lebenden Türken gegenüber verpflichtet fühlte, Auskunft zu geben: „Ich bin eine von ihnen und werde immer eine von ihnen bleiben, ihr Mädchen, das sie ausfragen dürfen, obwohl ich längst eine erwachsene Frau bin. Ich entkomme ihnen nicht, in ihren Augen bleibe ich Türkin, ganz gleich, was für einen Pass ich habe.“

Und sie fragt im Anschluss an diese Passage: „Wann habe ich wieder aufgehört, ,ich bin aus Deutschland’ zu sagen?“

„Ich bin Özlem“ ist passagenweise etwas statisch und dokumentarisch, auch in seinem Wechsel von Gegenwart und familiärer Vergangenheit. Kultur- und identitätspolitische Debatten werden darin in eine eher dürftige Erzählung gezwungen.

„Vater und ich“ hat einen literarischeren Zugriff. Dem Roman kommt dabei zugute, dass Güngör versucht, sich auf das Tochter-Vater-Verhältnis zu konzentrieren – das urbane, bildungsbürgerliche Milieu, in dem sich die Ich-Erzählerin in Berlin bewegt, bleibt außen vor.

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Es beginnt damit, dass die Mutter den Vater für ein paar Tage alleine lässt. Sie unternimmt mit drei Freundinnen aus ihrer schwäbischen Kleinstadt einen ausgedehnten, mehrere Tage währenden Wellnesstrip. Nicht dass der Vater sich nicht allein versorgen könnte – doch die Tochter nutzt die Gelegenheit, ihn zu besuchen, einmal ohne die Gegenwart der starken, aktiven Mutter. 

Sie will ihm näher kommen, so wie ganz früher, als sie noch klein war, ihrem Verhältnis und nicht zuletzt dem Schweigen des Vaters auf den Grund gehen: „Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen? Als ich zwölf wurde oder dreizehn? Oder erst später, als wir schon übers Ausgehen stritten und übers Abendswegbleiben?“

Was sie früher miteinander verband, ist vorbei, das ungezwungene Vater-Kind- Verhältnis. Das allerdings ist in jeder Familie so, und so kommt die Tochter auf die Herkunft des Vaters zu sprechen, auf sein Leben als Rentner, auf die Dynamik innerhalb der kleinen Kernfamilie und der großen sonstigen Familie.

Dabei reflektiert sie aber auch die eigene Vergangenheit in der Kleinstadt.

Die Tochter stellt sich selbst in Frage

„Vater und ich“ ist in großen Teilen nicht nur ein Vater-, sondern auch ein Erinnerungsbuch mit stark autobiografischen Zügen, das sich trotzdem als Roman versteht. Güngör arbeitet vorsichtig und sensibel die Beziehung zwischen Vater und Tochter heraus, wobei die direkte Anrede des Vaters in der zweiten Person dem Roman seine literarische Qualität beschert.

Anders als die Figuren in „Ich bin Özlem“ sind der Vater und selbst die Mutter im Hintergrund stark konturiert, und auch eine Dramaturgie ist zu erkennen.

Die Tochter stellt sich selbst in Frage, fragt sich zum Beispiel, wogegen sie eigentlich gewappnet sein wollte bei ihrem eifrigen Erwerb so vieler Sprachen („wie andere Leute Steine sammeln oder Badeenten, sammelte ich Wörter“). Und sie beginnt, das Schweigen als Teil der im Grunde ja nicht schlechten Beziehung zu begreifen, als letztendlich verbindendes Element.

Es fällt der Erzählerin schwer, sich das einzugestehen, sie wehrt sich dagegen. Doch spürt sie, dass fertige Sätze und verbrauchte Worte nicht der Beziehung letzter Schluss sein können. Es gibt eine Liebe, die ohne Worte auskommt, manchmal reicht das stumme Verstehen des anderen. Das wird von Dilek Güngör am Ende schön in Szene gesetzt durch ein paar Trauben, die er ihr nach den Tagen zuhause zusteckt, für die Bahnfahrt zurück nach Berlin.

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