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Meisterin der Biologiepoesie: Autorin Judith Schalansky.
© Torsten Silz/dpa

Judith Schalansky liest in der Potsdamer Villa Quandt: Die Schönheit der tiefen Traurigkeit

Schon in ihrem Roman "Der Hals der Giraffe" verwebte Judith Schalansky biologische Fakten und poetische Sätze miteinander. In "Verzeichnis einiger Verluste" führt sie diesen Stil in 12 Prosatexten fort.

Potsdam - Greta Garbo wuselt durch Manhattan. Zunächst folgt die bereits gealterte Schauspielerin einem unbekannten Mann, dann sucht sie den Gesundheitsladen. Weil sie mit einer triefenden Nase kämpft und partout ihre Kleenex-Tücher nicht finden kann. Kurz überlegt sie, ob sie vielleicht schon gestorben ist, aber nein: „Noch lebte sie. Das war ja das Problem.“ Die kurze Episode um Greta Garbo ist einer von zwölf Texten, die sich in Judith Schalanskys aktuellem Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ versammeln. Am Sonntag stellt sie den Prosaband in der Villa Quandt vor.

Es ist ein vielseitiges Buch, das Schalansky hier geschrieben hat. Gespickt mit historischen und kulturellen Fakten über Literatur, Film oder Seefahrt, die ihren Texten vorausgehen. Und die in ganz unterschiedliche Welten entführen. Im Falle von Greta Garbo verweist Schalansky auf den möglichen ersten Film von Stummfilmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau, der als verschollen gilt. „Der Knabe in Blau“ heißt er, und so ist auch Schalanskys Text über Garbo benannt. Auch sie begann ihre Karriere beim Stummfilm, schaffte den Übergang zum Tonfilm und gilt bis heute als Hollywood-Ikone. Ihr Herumstreifen in Manhattan und ihre damit verbundenen Grübeleien über ihre abflachende Karriere schreibt Schalansky in einem frechen Ton. Ein Gedankenmonolog Garbos, der komisch und gleichzeitig traurig ist.

Traurige, aber kraftvolle Texte

So sind alle Texte in „Verzeichnis einiger Verluste“: irgendwie zweigeteilt. Und irgendwie traurig. Immer geht es um Leerstellen, um den Verlust oder doch zumindest das Fehlen von irgendetwas. Zum Beispiel in „Guerickes Einhorn“. Dort begibt sich die erzählende Protagonistin auf die Suche nach Fabelwesen. Theoretisch natürlich, aber irgendwie auch ganz real. Dafür reist sie in die Berge, sucht die Einsamkeit, wälzt Bücher – und findet schließlich ein Einhorn. Allerdings nur in Form einer Tätowierung am Handgelenk einer Kassiererin. „Die Entzauberung der Welt war letztlich das größte aller Märchen“, heißt es an einer Stelle. Und weiter: „Das magische Denken eines Kindes ist stärker als jede Statistik, jeder Erfahrungswert.“ Die Schönheit der Phantasie gepaart mit der traurigen Gewissheit, dass sie nicht wahr sein kann. Traurigkeit, die kaum tiefer gehen kann.

Ähnlich wie schon in ihrem Roman „Der Hals der Giraffe“ paart die 1980 in Greifswald geborene und bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Schalansky solche poetischen Sätze mit biologischen Betrachtungen. Die „wahren“ Drachen, nämlich die Komodowarane auf den Galapagosinseln erwähnt sie genauso wie einen samenverspritzenden Riesenkalamaren. In dem Text „Kaspischer Tiger“ widmet sie sich dann dem Liger – einer Mischung aus Löwe und Tiger, die in freier Wildbahn nicht vorkommt, aber oft zu Attraktionszwecken gezüchtet wurde.

Hintergrund für ihre Ausführungen ist der blutige Kampf zwischen einer Tigerdame und einem Löwen zur Belustigung des römischen Volkes. Nicht minder brutal: die dabei stattfindende Paarung der beiden. „Was sind jene Katzen anderes als Mehrer ihrer Fruchtbarkeit? Verräter ihrer Art und zugleich Bewahrer“, schreibt Schalansky dazu. Ein philosophischer Text über grausame Schaustellerei und das traurige Schicksal der tierischen Darsteller. Anders als Greta Garbo können sie nicht selbst über ihre Rollen entscheiden. Mit ihr teilen sie sich nur ihre verführende Schönheit – und die Hauptrolle in berührend kraftvollen Texten. 

>>Judith Schalansky liest am Sonntag, 11 Uhr in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47.

— Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp Verlag, 2018, Hardcover, 252 Seiten, 24  Euro.

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