Kolumne „Spiegelstrich“: Die Rede des Jahres, Teil Zwei
Lothar Wieler, Christian Lindner oder Angela Merkel? Unser Kolumnist fragt nach dem Redner oder der Rednerin des Jahres.
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.
Wer hat die Rede aller Reden gehalten, wer ist Rednerin oder Redner des Jahres? Zum dritten Mal habe ich diese Frage gestellt, 27 Kolleginnen und Kollegen haben nachgedacht, empfohlen, gewertet. Eva Kötting, Radio-Moderatorin beim BR, empfiehlt Marina Weisband „für ihre Rede am Holocaust-Gedenktag im Bundestag am 28.1.2021“. Weisband sagte: „Aber ,einfach nur Mensch sein’ ist ein Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt.“
Robin Alexander, Autor und stellvertretender Chefredakteur der „Welt“, sagt: „Die Rede des Jahres war im Bundestag die erste Regierungserklärung des neuen Kanzlers. Olaf Scholz knüpft nahtlos an den Stil Angela Merkels an und referiert einzelne Vorhaben seiner Regierung ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, einen größeren Sinnzusammenhang zu erstellen. Wahrscheinlich haben ihn die Deutschen genau dafür gewählt.“
Gewonnen aber hat Scholz damit nicht. Denn auf dem Treppchen stehen …
… auf Platz Drei Lothar Wieler. Der RKI-Chef, so beschreibt es meine MDR-Kollegin Sarah Frühauf, „hat sich regelmäßig in der Bundespressekonferenz den Fragen der Öffentlichkeit gestellt. Es war nicht immer ein rhetorisches Feuerwerk, aber in einer aufgeheizten Zeit wie dieser braucht es wohl vor allem das: sachliche, mahnende und ungeschönt ehrliche Worte“.
… auf Platz Zwei Christian Lindner. Der sei, so Kristin Schwietzer, „oftmals spitzfindig und frech, immer intellektuell, manchmal ein bisschen zu viel davon, aber ein Meister der nahezu freien Rede“. Heinrich Wefing, Politikchef der „Zeit“, schreibt: „Dreimal wäre ein Absturz möglich, fast sogar wahrscheinlich gewesen, dreimal hat er es gut gemacht: zuerst als Anführer der loyalen Opposition im Bundestag, der die Sorgen um die Freiheit in der Pandemie ernsthaft artikuliert hat, ohne ins Fundamentalistische abzurutschen; dann als geschickter Wahlkämpfer, der Lust auf Veränderung transportiert hat; und zuletzt als Koalitionenbauer, dem man vielleicht zum ersten Mal den Willen zur Verantwortung abgenommen hat.“
Warum eigentlich ist nicht er der Kanzler?
Ich bin ja gespannt, ob Lindner seine Redekunst ins gewichtige Ministeramt übertragen kann, denn Pathos- und Floskelgefahr besteht bei ihm immer auch. Falls er es schafft, ist diese Frage nicht fern: Warum eigentlich ist nicht er der Kanzler?
… auf Platz Eins aber: Angela Merkel, denn deren Rede des 3. Oktober riss die Jury mit. „Als junge Ostdeutsche hat es mich tatsächlich sehr bewegt, die Kanzlerin so persönlich über ihre Ost-Identität reden zu hören“, schreibt Sarah Frühauf. Der Filmemacher und Autor Stephan Lamby sagt: „Ich habe im Wahljahr berufsbedingt viele schlechte PolitkerInnen-Reden gehört. Die beste Rede kam ausgerechnet von der rhetorisch wenig beeindruckenden Kanzlerin – als sie längst kein Interesse mehr an ihrer Wiederwahl hatte: Am Tag der Deutschen Einheit sprach Merkel – ausdrücklich als Ostdeutsche – ungewöhnlich persönlich über ihre Erfahrungen im wiedervereinigten Deutschland. Dass man ihre DDR-Biografie als ,Ballast’ bezeichnet hatte, empörte sie zutiefst."
Und die Autorin Jana Hensel ergänzt: „Mit dieser Rede war nicht mehr zu rechnen gewesen. So offen, klar und emotional hatte sie noch nie über ihr Ostdeutschsein gesprochen. So kritisch hatte sie sich noch nie mit der mitunter herablassenden westdeutschen Perspektive auf ostdeutsche Biografien auseinandergesetzt. Dass sie sich zudem als ,eine von 16 Millionen’ bezeichnet hat, war auch eine große Überraschung. Nach 16 Jahren im Kanzleramt scheint Merkel nicht nur in den Geschichtsbüchern angekommen zu sein, sondern noch an einem anderen Punkt: bei sich selbst.“
Klaus Brinkbäumer