Premiere von "Das achte Leben (Für Brilka)" am Hans Otto Theater: Die große Weite eines Jahrhunderts
Mit Nino Haratischwilis „Das achte Leben (Für Brilka)“ begann die neue Spielzeit im Hans Otto Theater. Die Inszenierung von Konstanze Lauterbach überzeugt.
Potsdam - Die nah an den Zuschauerraum und zugleich weiträumig in die Tiefe gebaute Bühne ist eine Einladung, nah heranzukommen. Diese galt nicht nur für den ersten Abend dieser neuen Spielzeit am Hans Otto Theater, sondern ist wohl auch als Geste für die kommenden Monate zu verstehen, in denen es um das Thema Offenheit gehen soll.
Der Einstieg in die neue Saison war am Freitag in jeder Hinsicht opulent. Die Regisseurin Konstanze Lauterbach hatte sich den annähernd 1300 Seiten umfassenden Roman der Georgierin Nino Haratischwili vorgenommen und eine vierstündige Spielfassung erarbeitet. Von notwendiger Reduktion war an diesem Abend dennoch nichts zu spüren.
Die Erzählung, die das Scheitern der Familie eines Schokoladenfabrikanten ins Zentrum rückt, ist eingangs leichtfüßig in Szene gesetzt. Vor die Projektion eines Sternenhimmels, der die große Weite eines Jahrhunderts, aber auch das Vielfache der Wünsche und Möglichkeiten ins Bild bringt, fällt ein transparenter Vorhang, der mit Blüten verziert ist. Dieses Schwebend-Florale wiederholt sich in Stasias feiner Schürze, die sie über ihrem Kleid trägt, als sie die mit Möbelstücken, Treppe, Turnreck und Blütenblättern ausgestattete Bühne betritt (Kostüme: ebenfalls Konstanze Lauterbach).
Große Sehnsüchte
Tatsächlich hat die Tochter (Franziska Melzer) dieses erfolgreichen georgischen Unternehmers große Wünsche: Sie will weit weg. Und zwar tanzend. Der Traum heißt Paris. In agiler Leichtigkeit unterrichtet Stasia ihren künftigen Ehemann Simon Jaschi (Paul Sies), den ihr Vater (Andreas Spaniol) für sie ausgesucht hat, von ihren Vorstellungen. Als Stasia und Simon als Andeutung ihres gemeinsamen Kennenlern-Ausritts witzig-sportlich aus dem langen transparenten Vorhang gehoppelt kommen, ist das der Auftakt für die vielen, vielen originellen und überraschenden Spielideen, die den Abend durchziehen werden und sich dabei zu einer assoziationsreichen, sinntransportierenden Bilderfolge verbinden. Kostja beispielsweise, Stasias Sohn, wird als Mann-Kleinkind-Wesen (Guido Lambrecht) mit einem Schwall Wasser aus einem großen zweitürigen Kleiderschrank geboren, die Schwester Kitty (Tina Schorcht) purzelt hinterher.
Wenn die Erzählerin Niza nicht wie eingangs Manuskriptblätter beschreibend auf einer Matratze liegt oder die Ereignisse ihrer Familie und dieses 20. Jahrhunderts kommentierend hinter einem Mikrofon am Bühnenrand steht, platziert sie sich wie eine lauernde Zuschauerin an die Seite dieses Kleiderschrankes. Alina Wolff trägt mit großer Ausdrucksstärke durch diesen Abend, ihre Wandlung von der Beobachterin und Kommentatorin hin zu einer Involvierten, Mitfühlenden und Mitleidenden wird selbst noch an einem Detail des schlichten Kostüms sichtbar. Die schwarze gut sitzende Hose zum weißen Langarmhemd weicht einer grauen schlabberigen Jogginghose. Niza verliert die Fassung mit Blick auf die unsäglichen Verstrickungen ihrer Vorfahren, die – vor allem beschwiegen oder nur undeutlich benannt – großes Leid an die nächste Generation weitergeben.
Überzeugende Darsteller
Durchweg überzeugend transportiert Rita Feldmeier das Resolute und Abweisende der großen Verleugnerin Thekla, die ihre Verwandte Stasia in ihrer verbarrikadierten Villa in Petrograd aufnimmt und tatenlos darauf wartet, endlich wieder „Spaß“ zu haben – und einfach die soeben erfolgte Erschießung des Zaren und seiner Familie ignoriert. Überhaupt: Respekt für Rita Feldmeier, die Langjährigste dieses Ensembles, in welch souveräner Feinarbeit sie die alternde Stasia verkörpert, in ihrer seltsamen Versponnenheit, die immer wieder von so klaren Momenten mit einer großen Direktheit durchbrochen wird!
Ebenso beeindruckend ist Henning Strübbes sehr körperliches Spiel, mit der er die hartnäckige kindliche Hoffnung auf die Rückkehr seiner vom Geheimdienst in eine psychiatrische Anstalt verschleppte und schließlich ermordete Mutter, die Dichterin Sopio, Holz schnitzend in Szene setzt. Später mündet diese in eine tiefe Verzweiflung ob seiner Gebrochenheit nach seiner Rückkehr aus dem Gulag. Andrea Casabianchi, die die hellsichtige, die aktuellen Katastrophen in einer poetischen Sprache benennende Sopio spielt, überzeugt ebenso als Elene, Nizas Mutter, in ihrem trotzig-wilden Lebenswillen, den sie ebenfalls durch ausdrucksstarke Körperlichkeit glaubhaft macht.
Ein gelungenes musikalisches Konzept
Nach der Pause wird ein Bühnenumbau sichtbar, der auch in die Clubszene Londons führt, in der die geflohene, aufs Schwerste misshandelte Kitty (Franziska Melzer) ihre eigenen Lieder vorträgt. Der große Kleiderschrank ist einem Fünfzigerjahre-Kühlschrank gewichen. Während dieses zweiten Teils des Abends schreit nun auch Niza ihre – inzwischen von großer Verzweiflung grundierten – Wünsche ins Mikrofon: Keine Überwachung mehr, keine Diktatoren. Liebende, zugewandte Eltern. Und: „Lou Reed für alle!“ Die Einspielungen der 60er-, 70er- Jahre-Songs machen so manche Szene aushaltbarer, insgesamt durchzieht die Inszenierung ein gut gesetztes musikalisches Konzept.
Gegen halb Zwölf, am Ende des Abends, gibt es begeisterten Applaus für diese gelungene Inszenierung mit einem spielwütigen Ensemble und für die Romanautorin Nino Haratischwili, die der Kostja-Darsteller Guido Lambrecht schließlich von ihrem Zuschauerplatz zu den Mitwirkenden auf die Bühne holt.
Carolin Lorenz