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Alina Wolff gehört zu den drei Schauspielern, die Bettina Jahnke aus Neuss mit nach Potsdam brachte.
© Manfred Thomas

Neustart am Hans Otto Theater: Die Wellenreiterin

Die Schauspielerin Alina Wolff hat am Samstag als Shen Te in Brechts Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ ihre Potsdam-Premiere. Es ist ein doppelter Sprung ins kalte Wasser: Publikum und Kollegen sind neu – und die Bühne geflutet.

Der Zungenbrecher kommt ihr flott von den Lippen. Schließlich hat sie ihn jahrelang vor jeder Vorstellung aufgesagt, „Der Potsdamer Postkutscher ...“ Ein Ritual zum Lockerwerden der Stimme, bevor sich der Vorhang hebt. Doch als es plötzlich im Frühsommer hieß, dass die Intendantin Bettina Jahnke Neuss verlässt und nach Potsdam geht, traute sich Alina Wolff nicht mehr, diesen „Potsdamer Postkutscher“ laut auszusprechen. Vielleicht, weil sich Wünsche eher im Verborgenen erfüllen. Schließlich wollte sie genau dorthin: gemeinsam mit Bettina Jahnke ans Potsdamer Hans Otto Theater.

Alina Wolff kannte es bereits aus Kinder- und Jugendtagen, als sie mit ihrer Mutter von Berlin-Zehlendorf immer mal wieder ins Stadttheater hinter der Glienicker Brücke fuhr. Potsdam wäre für sie der Weg zurück. Doch viele ihrer Kollegen wollten mit ins neue Ensemble von Bettina Jahnke. Alina Wolffs leises Hoffen erfüllte sich: Sie ist eine der drei Auserwählten, die von Neuss nach Potsdam wechseln durften. 

Sie weiß auch, wie das ist, gehen zu müssen

Hier ist sie nun in dem neu entstehenden Ensemble, „möchte etwas reißen, den Neubeginn mitsteuern“ und weiß zugleich, wie schwierig es für jene ist, die gehen mussten: um für sie Platz zu machen. Auch das erlebte die 33-Jährige bereits selbst mit: in ihrem ersten Engagement in Trier. Als dort ein neuer Intendant kam, musste das gesamte Ensemble gehen. „Ein heftiges Gefühl, nicht mehr gewollt zu sein.“ Kurz vorher demonstrierte sie mit ihren Kollegen für den Erhalt des Drei-Sparten-Theaters. Wenigstens das gelang.

Trier, Neuss: zwei Stationen, die der quirligen, sehr empathisch wirkenden jungen Frau große Rollen brachten: Sie war Hedda Gabler, das Lämmchen aus Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ und spielte die Lena in Büchners „Leonce und Lena“, genau das Stück, das die Initialzündung für ihren Berufswunsch gab. Als sie 16-jährig am Deutschen Theater Berlin die Inszenierung von Robert Wilson sah, war sie so verzaubert, dass sie wusste: „Solche Geschichten möchte ich auch erzählen.“ Sie erzählt sie. Immer wieder. Nach ihrer „Jungfrau von Orleans“ in der Regie von Bettina Jahnke erhielt sie 2017 den Förderpreis des Fördervereins des Rheinischen Landestheaters Neuss. „Eine Herzensarbeit, die mir sehr naheging.“

Die Frage, die sie in Brechts Stück umtreibt: Wie kann man gut sein?

Wie nun auch ihre erste Rolle in Potsdam: die Shen Te in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“. In dem Stück kommen drei Götter auf die Erde, um gute Menschen zu finden. Doch ist das nicht so leicht. Denn angesichts von Not und Armut, die in der Hauptstadt von Sezuan herrschen, stellt sich die Frage: Wie kann man gut sein? Einzig die Prostituierte Shen Te nimmt die Fremden, diese Götter, bei sich auf und beginnt mit dem großzügigen Miet-Obolus ein neues Leben. 

Für Alina Wolff ist die Rolle der Shen Te zugleich ein Sprung ins kalte Wasser, im wahrsten Wortsinne. Denn gespielt wird auf einer Wasserbühne. „Für den Regisseur Malte Kreutzfeldt steht Wasser für Tod und Verfall. Für mich ist es etwas sehr Lebendiges, etwas zum Spielen. Der Boden ist rutschig, man ist unsicher, und jede Bewegung ergibt ein Geräusch. Auch das hat eine Bedeutung: Wir müssen Wachsein im Miteinander, sodass unsere eigenen Geräusche nicht die Worte des anderen übertönen.“ Für Alina Wolff, die Wellenreiterin, die das Wasser über alles liebt, und sich auch deshalb so auf Potsdam freut, hat diese Inszenierung in den drei modrig-schlammig wirkenden Becken etwas Archaisches, sehr Körperliches. Und auch wenn das Wasser am Ende der Aufführung kalt ist, vergisst sie das Frieren, weil sie sich innerlich warm fühlt. Vom Thema aufgesogen.

Brechts Stück schärft die Wahrnehmung, auch bei Alina Wolff

Wer ist ein guter Mensch? Diese Brechtsche Frage treibt sie um. Sie hinterfragt sich selbst, schaut auf sich – und merkt, dass sie aufmerksamer wird. In den kleinen Gesten des Miteinanders, etwa, um jemandem die Tür aufzuhalten, älteren Menschen etwas aus den oberen Regalen in der Kaufhalle herunterzureichen. „Wir kreisen heute sehr um uns selbst, helfen selten anderen“, so ihre Beobachtung. Dieses Stück ermuntere, hinzuschauen. Wer schläft da auf der Straße? Kann ich etwas tun? Wie kann ich zu anderen und gleichzeitig zu mir gut sein? Bin ich bereit, auch einen Flüchtling aufzunehmen? Wie soll man leben? Alina Wolff hält inne. Denkt nach. Weiß, dass das Stück keine Antwort liefert. Aber die Wahrnehmung schärft. Das Hinschauen. 

Sie kennt Brecht von ihrer Schauspielausbildung in Rostock: Nach 13 Vorsprechen innerhalb von zwei Jahren wurde sie dort angenommen, fühlte sich endlich gesehen. Dazwischen lagen auch drei Monate Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität Potsdam. Bis sie erkannte: „Ich kann nicht mehr Stillsitzen, ich muss mich bewegen, muss spielen.“ Es sei wie ein Urinstinkt gewesen, genährt aus Kindertagen; als sie mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder zu der Musik aus dem Schallplattenschrank ihres Vaters, dem Kontrabassisten an der Berliner Philharmonie, spielte. Sie sich in die Königin der Nacht verwandelte oder das „Wild“-Album der Beatles als Hund und Katze beseelte. „Wir haben auch gern Schwimmbad gespielt mit Badehaube und Tüchern als Wasser.“ Stundenlang schwamm sie hinaus mit dem Nachbarsjungen. „Ins Schwimmbad durfte mein Bruder nicht mit rein“.

Am Ende ist Shen Te so schlau wie am Anfang

Am Samstagabend nun schwimmt sie auf der Bühne des Hans Otto Theaters. Sie, die leidenschaftliche Spielerin, die sechs Jahre auf der kreativ ausgerichteten Waldorfschule war, dann im Jugendklub des Deutschen Theaters und in der Jugendtheaterwerkstatt Spandau Spielerfahrungen sammelte. Heute Abend spricht sie den Satz „Ach in mir ist so eine Gier, mich zu verwöhnen.“ Ihre Shen Te, die Prostituierte, Gemiedene, ist plötzlich eine Reiche. Mit dem Geld kommt die dunkle Seite in ihr zum Vorschein. Sie wird zur Kapitalistin, lässt andere für sich schuften. Am Ende kommt sie zu ihren Fragen zurück und ist so schlau wie am Anfang, alleingelassen von den Göttern.

Alina Wolff holt das Schicksal dieser jungen Frau direkt an sich ran. Doch bevor sie ihre Leidenschaft ins Rollenspiel hineingibt, wird „Der Potsdamer Postkutscher“ sicher wieder als Einsprechübung ihre Zunge lockern. Im Glücksgefühl des Zurückkommens.

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Die Premiere von "Der gute Mensch von Sezuan" am Samstag, dem 6.10. im Großen Haus des Hans Otto Theaters ist bereits ausverkauft. Weitere Vorstellungen am 21.10. sowie am 6. und 10.11.

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