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Ballett der perfekten Körper. Start zum 200-Rückenschwimm-Finale der Männer bei den Olympischen Spielen in London.
© AFP

Doping-Expertin Ines Geipel im Interview: "Solche absurd fettlosen Körper gibt es nicht"

Die ehemalige Sprinterin Ines Geipel spricht im Tagesspiegel-Interview über Doping-Gewissheiten, den gesellschaftlichen Trend zur Chemie und ihre Aufgabe als neue Vorsitzende des Vereins Doping-Opfer-Hilfe.

Frau Geipel, wie geht es dem Sportfan in Ihnen?

Der ist nicht in Bestform.

Teilen Sie den Doping-Generalverdacht, der sich über den Sport zu legen droht?

Nein, das ist kein Verdacht mehr, das ist Gewissheit. Eine Generalgewissheit. Es wäre ja absurd, wenn ich noch von der Unschuld ausgehen würde.

Der Profisportler, ein Krimineller?
Schuld sind nicht die Athleten, die sind verführbar, aber nicht kriminell. Sehen Sie den Radprofi Jörg Jaksche. Der hat mir mal gesagt: Ich war wirklich ein Talent und bin trotzdem zwei, drei Jahre nur hinterhergefahren, bis mich mein Trainer zur Seite nahm und mir erklärt hat, wie das Ganze läuft. Das ist die Norm in den Sportarten, in denen Kohle verdient wird und die medienrelevant sind.

Warum lässt Sie der Sport dann nicht los?
So viel Liebe habe ich schon noch und sage: Wir haben wunderbare Talente, wir lassen sie an ihrer Grenze arbeiten, wir stellen die Bedingungen zur Verfügung. Und wenn es am Ende der neunte Platz wird oder, wenn es gut läuft, der dritte, dann ist doch alles großartig.

Ihre Sportvision heißt also: Ausscheren aus dem Profisport.
Es muss ja nicht ausscheren sein. Aber dem Unternehmen Profisport eine neue Idee, eine andere Richtung geben. Und sagen: Moment, das ist hier zwar ein nettes Bild, aber was ist die Realität? Ich komme aus dem Sport, ich bin für Leistung, ich freue mich, wenn junge Leute in ihm etwas finden, was sie wirklich mögen. Und wir brauchen den Sport ja auch. Aber es ist fatal, wenn wir Talenten ein Gestell bauen, in dem sie nicht glücklich werden können, weil es nicht anders geht, als zu betrügen.

Will das Publikum diese Realität wirklich sehen?
Freude, wirkliche, echte, die will man immer sehen. So ein Chemiekörper wie Michael Phelps, der kann sich ja nicht mal richtig freuen.

Was macht Sie so sicher, dass Phelps nicht vielleicht doch ein Jahrhunderttalent ist? Er selbst hat stets bestritten, gedopt zu haben.
Unübersehbar ist doch seine veränderte Physiologie. Fotos aus seiner Anfangszeit neben die von London gelegt, und Sie sehen das, was Sie wissen müssen. Wir sind ja auch längst mittendrin in diesem Gefühl der Ödnis. Immer dieselbe Mechanik des Jubels und diese absurd fettlosen Körper. Solche Körper gibt es einfach nicht. Im Sport sind gerade Substanzen unterwegs, die den Körper in der Tiefe verändern: Aicar oder GW501516, solche Sachen, die langfaserige Muskeln in kurzfaserige umwandeln. Jeder Manager im Sport sagt dir: Das ist jetzt der letzte Schrei. Und nichts davon ist ausgeforscht. Mehr Kriegssituation kann man ja gar nicht haben.

Aber die Menschen gehen doch ins Stadion, weil sie sich unterhalten lassen wollen, eine intellektuelle Auseinandersetzung zu erwarten, ist vielleicht zu viel verlangt.
Okay, dann halsen wir den Fans mal nicht zu viel auf. Dann bleibe ich ganz bei dem, wo ich mich auskenne, bei der Schadensbilanz. Und sage: Dass die Fans die so hinnehmen, liegt ja nur daran, dass sie die Geschichte nach der Geschichte nicht kennen. Das Leid danach, das ganze Elend.

"Fast ein Viertel der Bevölkerung ist permanent auf Chemie."

Unser Eindruck ist dennoch, dass Doping als Thema immer unattraktiver wird. Positive Proben werden achselzuckend zur Kenntnis genommen, Wirtschaft und Politik sind kaum noch bereit, in die Bekämpfung des Dopings zu investieren. Warum haben Sie sich trotzdem Anfang März zur Vorsitzenden des Vereins Doping-Opfer- Hilfe (DOH) wählen lassen?
Weil es was Unerträgliches hat, dass immer wieder junge Leute auf den Chemiezug geschoben werden, nur, weil wir es nicht hinkriegen, eins und eins zusammenzuzählen. Außerdem gibt es in meinen Augen gerade eine tektonische Verschiebung. Vor allem im Sport gab es im Osten 20 Jahre lang bei den meisten Athleten eine enorme Loyalität gegenüber der DDR. Aber auf einmal fragen sie nach ihren Stasi-Akten. Sie wollen wissen, wie sie medizinisch behandelt worden sind. Sie suchen nach ihrer Geschichte.

Warum passiert das gerade jetzt?
Ich glaube, das hat mit Ablösungsprozessen vom DDR-System zu tun. Was für ein Geschrei all die Jahre, wenn vom Glanz des Ost-Sports was abbröckelte. Nun kommen langsam auch die West-Geschichten hoch. Dadurch entsteht mehr Offenheit. Dazu kommt Armstrong, der Superlativ der Lüge. Jetzt einfach so weiterzumachen, wäre Irrsinn. Wir brauchen ein andere Lösung.

Und wie wollen Sie diese Lösung finden?
Es geht um neue, wache Allianzen. Es gibt genügend Leute, im Sport und auch außerhalb, die die Krise des Sports sehen und etwas tun wollen. Die Doping-Opfer-Hilfe will Ansprechpartner sein, eine Plattform für selbstbestimmten Sport. Deshalb geht es bei unserer neuen Beratungsstelle auch um etwas Integratives. Die ehemaligen DDR-Athleten sind in Not, aber die Athleten heute doch auch.

Wie soll die Beratungsstelle aussehen?
Sie wird in Prenzlauer Berg bei der Havemann-Gesellschaft angesiedelt. Dort werden zwei Personen sitzen, die Anfragen bündeln und an Experten weitergeben. Juristen, Mediziner, vor allem aber geht es um psychologische Hilfe. Es gibt Dopingopfer, die über Jahre in Psychiatrien sitzen, in multiplen, moribunden Situationen, und die absolut unaufgefangen sind.

Darüber, was uns Medaillen wert sind, wurde auch bei Olympia in London diskutiert. Die Zielvorgaben von Innenministerium und DOSB empfanden manche als Aufforderung zum Dopen. Sie auch?
Absolut. Der Aufschrei war völlig berechtigt. Das Bild vom unschuldigen Sport, das ist vorbei. Diese Lüge hält nur noch auf, auch den Sport selbst.

Ist es nicht kontraproduktiv, dass Sie sich vorrangig um das DDR-Doping kümmern? Verändern ließe sich doch nur etwas, wenn auch das jetzige System untersucht würde.
Aber die DDR ist ja keine Sekunde Vergangenheit. Das Know-How findest du überall, wenn du unterwegs bist, in der Schweiz, in Österreich, in Australien. Und die DDR ist nicht weg, weil die Denke noch da ist. Diese Effizienz der Gewalt. Der ausgebliebene Mentalitätsbruch im Sport korrespondiert mit dem in der Gesellschaft. Die Chemie ist Teil unserer Kultur, eher mehr denn weniger. Mich interessiert die DDR ja vor allem als Modell für das Jetzt. Und da bleibt sie erstaunlich aufschlussreich.

Wir sind also alle Doper?
Zumindest gibt es einen klaren Trend hin zur Manipulation: Knapp 800.000 Kinder sind auf Ritalin, knapp zwei Millionen Studenten auf etwas, was sie entweder hoch- oder runterbeamt, knapp drei Millionen schieben sich in den Fitnessstudios Steroide oder sonst was rein, dazu die Sportler und Anti-Ager, Anti-Depressivisten oder seelisch Ausgepumpten. Fast ein Viertel der Bevölkerung ist aufgrund des Hochdruckkessels permanent auf Chemie. Und dann guckst du in die Blogs und da steht: Sagt mal, mir ist hier gerade was gewachsen. Kann mir jemand sagen, was das ist? Nein, wir haben unsere Körper verloren, und sind da auch völlig gaga. Einerseits muss alles Bio sein, andererseits schlucken und spritzen wir pausenlos Chemie. Da muss man auch die mal befragen, die auf heile Welt spielen und uns was vom Schnee erzählen.

Wer will uns was vom Schnee erzählen?
Wir haben ein Innenministerium, das da keine besonders gute Figur macht. Wenn man weiß, dass bestimmte Sportarten nicht sauberzukriegen sind, kann es Steuergelder auch zurückbehalten oder umleiten. Es gibt genug dicke Kinder im Land. Wir haben einen Sportausschuss, der nur noch hinter verschlossenen Türen tagt. Und wir haben den DOSB, der aufjault, wenn die gloriose Erzählung von der schönen Welt des Sports mal gestört wird. Wer ist denn da, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche maximal zu schützen und aufzuklären?

Also müssen Sie an die Schulen, um Kinder und Eltern frühzeitig aufzuklären?
Prävention klingt immer langweilig. Aber Eltern, die ihre Kinder wirklich mögen, müssen ihnen heute sagen: Wenn du in diese oder jene Sportart gehst, dann gehst du in ein großes Risiko. Die Schüler an den Gymnasien, mit denen ich spreche, wollen die Chemie nicht. Doch sie wollen Antworten. Was sagen wir denen? Augen zu und durch? Diese Art Eventsport, den wir heute haben, ist eine Totgeschichte. Vor allem, wenn der Fußball noch mehr erodiert.

Ines Geipel über die "Mär vom schönen Fußball"

Aber der Fußball steht doch noch gut da.
Ach ja, die Mär vom schönen Fußball. Wachstumshormone, Steroide, Epo – das soll ja alles nichts bringen. Das ist noch das Erstaunlichste: Wie schön sich der Fußball aus dem Chemie-Problem bisher raushalten konnte. Eine Frage des Glaubens und der Kohle.

Welche Rolle sollen die Dopingopfer in der Prävention spielen? Sie sagten, es gebe eine Absichtserklärung des DOSB zur Einbindung der Opfer.
Absichtserklärungen sind eine tolle Sache. Aber wenn die Opfer kommen, sind sie die notorischen Bildstörer und haben draußen zu bleiben. Der Sport ist ja nun auch nicht gerade der Erfinder des kritischen Blicks. Außerdem wird den Geschädigten ständig vorgeworfen: Ihr habt ja nur die DDR-Geschichte drauf. Erstens stimmt das nicht und zweitens machen doch deren Erfahrungen den Sport zwangsläufig ziviler und vielfältiger. Aber das Kapital hat er bisher ausgeschlagen.

Was ist mit den Dopingopfern im Westen?
Klar, so jemand wie Jörg Jaksche würde sich sicher auch vor eine Klasse stellen.

Haben Sie die Hoffnung aufgegeben, mit dem DOSB etwas gemeinsam zu machen?
Nein, wir sprechen mit jedem. Und wir schreiben Briefe.

Was wird im Brief an den DOSB stehen?

Ines Geipel, 52, gehörte in der DDR der Leichtathletik-Nationalmannschaft an. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen das DDR-Zwangsdoping. Sie arbeitet als Autorin und Professorin.
Ines Geipel, 52, gehörte in der DDR der Leichtathletik-Nationalmannschaft an. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen das DDR-Zwangsdoping. Sie arbeitet als Autorin und Professorin.
© dpa

Dass es ja nun seit sieben Jahren Absichtserklärungen gibt, und wir uns sehr freuen würden, wenn das nun mal konkreter würde. Wir sind auf Gespräche aus.

DOSB-Generaldirektor Michael Vesper hatte doch aus Ihrer Sicht gar nicht schlecht angefangen. Kaum war er im Amt, hat er eine Entschädigungszahlung für die DDR-Dopingopfer durchgefochten.
Das soll’s ja geben, so einen Superstart. Aber dann war Flaute. Jetzt müssen wir mal sehen, was so geht zwischen dem DOSB und dem DOH.

Die Stiftung Deutsche Sporthilfe hat jetzt in einer Studie auch nach den Dysfunktionen des Sports gefragt, nach Doping, Manipulation, Burn-out. Sehen Sie die Sporthilfe eher als Partner?
In jedem Fall ist es der offenere Gesprächspartner. Und ihr Versuch, in der Sportpolitik mal ein Stück Realität einziehen zu lassen, ist immerhin mal was. Wäre doch großartig, wenn wir die Sporthilfe für unsere Belange begeistern könnten. Ich glaube aber, dass wir viele Ansprechpartner haben. Frau Merkel und Herr Gauck kriegen auch ihren Brief.

Was fordern Sie von Ihnen? Geld?
Das ist keine Frage des Geldes, der Legendenbildung des Sports etwas entgegenzusetzen. Man kann als Politiker bei einer WM über den grünen Rasen tippeln oder sich mal zu den Geschädigten verhalten und dadurch einen Akzent setzen. Die Frage ist doch dabei nicht nur, welchen Sport wir wollen, sondern mit welchem Körper unsere Industriegesellschaft ins nächste Jahrhundert geht.

Frau Geipel, warum werden Sie in der Dopingbekämpfung nicht müde, obwohl sie so wenig Fortschritte macht?
Doping ist eine Sache der Haltung. Man entscheidet sich. Unsere Politik, das Sport-Establishment, sie entscheiden sich nicht. Ich habe in den Jahren nach dem Sport viel versammeltes Leid gesehen. Das ist nicht drin, sich einfach so abzuwenden. Der Trend, was die Chemie angeht, ist zwar im Moment eindeutig, aber das muss ja nicht so bleiben. Kann sein, es braucht noch zehn, noch zwanzig Armstrongs, aber irgendwann sind wir durch. Da war doch mal was mit der Vernunft, nicht?

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