PNN-Serie "Potsdamer Schreibtische": Lutz Seiler: Der Tonsetzer
In der Serie „Potsdamer Schreibtische“ stellen die PNN Autorinnen und Autoren aus Potsdam und Umgebung vor. Heute: Der Peter-Huchel-Haus-Bewohner Lutz Seiler. Er arbeitet vom Klang her – und zur Vergangenheit hin.
Potsdam - „Peter Huchel ist ein guter Mitbewohner“, sagt Lutz Seiler zur Begrüßung. Natürlich sei er, der 1981 verstorbene Lyriker und Namensgeber des Hauses, in dem Lutz Seiler seit 1999 lebt, überall präsent. Aber nein, die beiden Dichter kommen sich nicht ins Gehege. Peter Huchel ist sehr diskret, immer gerade im Zimmer nebenan. Peter Huchels Gedichte hingegen, sagt Lutz Seiler und zeigt auf die blühenden Zweige im Garten, hängen da draußen in jedem Baum.
Peter Huchel, einer der bekanntesten deutschen Lyriker der Nachkriegszeit, lebte in dem Haus in Wilhelmshorst seit Mitte der 1950er fast zwanzig Jahre. Hier schrieb er seine wichtigsten Gedichte, von hier aus gab er die Zeitschrift „Sinn und Form“ heraus. Hier wurde er von der Staatssicherheit überwacht, hierher kamen Wolf Biermann, Günter Kunert und Reiner Kunze, um den Autor in seiner Isolierung zu unterstützen. Und von hier reiste Peter Huchel schließlich aus der DDR aus. 1971 war das.
Jeder Gegenstand wird in seiner körperlichen Präsenz wahrgenommen
Lutz Seiler, geboren 1963, war damals keine zehn Jahre alt, lebte im Thüringischen und ging mit seinem Vater jeden Sonntag an der Kirche vorbei zu einer Garage, um dort an einem Auto namens Shiguli und einem Moped namens SR1 herumzuschrauben. Wie das mit dem preisgekrönten Autor, der Seiler heute ist, zusammenhängen mag, lässt sein Essay „Sonntags dachte ich an Gott“ (2004) ahnen: „Ich knie nieder auf meiner Decke, der Rücken ist leicht gebeugt, und zwischen Zylinderkopf und Tank geht der Blick hinaus ins Leere. Ich bin entspannt und heute würde ich sagen: ich spürte in diesem Augenblick meine Existenz und zugleich die von etwas Anderem, Jenseitigem, das für die Augen unsichtbar bleibt.“ Dieses „Stadium der Andacht“, das der Junge in der Garage seines Vaters kennenlernt, diese Konzentration auf ein konkretes Detail, die sich auf etwas Ungreifbares hinter dem Detail richtet – man spürt sie in den Texten von Lutz Seiler in fast jeder Zeile. Jeder Gegenstand wird in seiner körperlichen Präsenz wahrgenommen und ist eine Tür zu Dahinterstehendem, Darunterliegendem. Oft führt diese Tür zurück zu dem Kind, das der Autor mal war. Oder in das Land, in dem es aufwuchs, die DDR. „Magische Plätze waren das“, heißt es in „Sonntags dachte ich an Gott“ über ein Trafohaus, an dem Seiler als Kind auf seinem Weg zur Garage vorüberging. „Durch jedes dieser Kabel konnte eine Geschichte kommen, die ich mir, wenn ich wollte, nur anzuhören brauchte.“
Bevor das Kind zu dem Autor wurde, der im Jahr 2000 mit seinem Gedichtband „Pech & Blende“ bekannt werden und 2014 den Deutschen Buchpreis für seinen ersten Roman „Kruso“ bekommen würde, kam die Lehre als Baufacharbeiter. Die Arbeit als Maurer und Zimmermann. Wie viel von dem Zimmermann ist noch da im Autor Lutz Seiler? Bestimmte Herangehensweisen übertrügen sich, wenn ein gelernter Handwerker ein neues Handwerk wie das Schreiben angehe, sagt er. „Die Bemühung um Genauigkeit, um ein ,perfektes Produkt’.“ Auch die Herstellungsweisen ähneln sich: das ständige Überarbeiten. „Als Maurer muss man wissen, ab wann man mit der Abreibung des Mörtels beginnen und wie lange man reiben darf. So ist es auch mit einem Text. Man muss wissen, wann man aufhört mit dem Überarbeiten. Weil sonst ein Text klinisch wird, tot.“
Lutz Seiler: "Ich glaube, dass jeder Autor immer wieder zu einem idealen Rhythmus finden will"
Am Anfang des Schreibens steht bei Lutz Seiler der Klang, oder vielmehr eine Klangfolge. „Es wird immerzu vom Ohr her gearbeitet. Ich glaube, dass jeder Autor immer wieder zu einem idealen Rhythmus finden will.“ „Lebensrhythmus“ wird er ihn später nennen. Dieser trage nicht nur die Gedichte, sagt er, sondern auch die Prosa. „Ein Text beginnt mit einer Melodie, ein paar Worten, die man im Ohr hat und sich irgendwo notiert.“ Oft entdeckt er eine Notiz erst Jahre später wieder, bei der Suche nach einem „Metallspan, der sich in das bestimmte Magnetfeld eines Gedichts noch einfügen könnte“.
In Wilhelmshorst schreibt Lutz Seiler an einem großen Tisch im ersten Stock. Hier steht ein Laptop, hier liegen Bücher und Notizbücher, und an der Wand passt ein großformatiges Wildschwein auf. Von hier habe man den schönsten Blick, sagt er. Auf die Bäume im Garten. Peter Huchel schrieb in einer Kammer unterm Dach. Dort oben hat Lutz Seiler einen zweiten Schreibtisch, der aber nur für Organisatorisches genutzt wird. Für die Programmplanung des Peter-Huchel-Hauses, dessen Leiter er nebenbei auch ist.
Gewisse Einsamkeit in Schweden, die dem Schreiben guttut
Lutz Seiler hat einen dritten Schreibtisch, und zwar in Stockholm. Dort lebt seine Frau, eine Germanistin. „In Schweden bin ich auf eine Weise einsam, die dem Schreiben guttut“, sagt er. Keine gesellschaftlichen Verpflichtungen, keine Ablenkung, ein klares nördliches Licht. Seilers Roman „Kruso“ entstand zu großen Teilen dort. „Kruso“, erschienen 2014, erzählt vom Sommer und Herbst 1989, ohne auf das historische Ereignis selbst, die Maueröffnung, genauer einzugehen. Das, sagt Seiler, sei vorher kaum möglich gewesen. Das ging erst, als er der Zeit nicht mehr verwoben war.
Von 2010 bis 2013 schrieb Lutz Seiler an dem Roman, genauso lange dauerte es, die „Friends Arena“, das größte Stadion Schwedens, zu bauen, die unweit von seinem Haus in Schweden steht. Mit Begeisterung erzählt er von dem Jahrhunderttor, das Zlatan Ibrahimovic 2012 dort gegen England schoss: Wie Ibrahimovic sich im Fallen noch umdrehte, nur um zu sehen, dass sein Ball ins Tor ging. Vielleicht wird aus dem Jahrhunderttor mal ein Gedicht, wenn die Zeit dafür reif ist. Stoffe müssen reifen – wie eine Wurst, die lange genug abhängen muss, sagt Lutz Seiler. In „gravitation“ schreibt er: „jedes gedicht geht langsam/ von oben nach unten, von unten/ nach oben. es verwahrt/ seine sture natur, die sich noch / mit ihren abgebrannten blütenköpfen/ nach der sonne dreht.“
Mindestens sieben Jahre, bei Prosa länger, dauert es, bis ein Stoff das hat, was Lutz Seiler die „legendäre Qualität“ nennt. Bis der Stoff übersetzbar wird in die Seilersche Klangfolge, bis die „rhetorische Skulptur“ stimmt. Die einzigen Leserinnen vor der Veröffentlichung sind Lutz Seilers Frau und, später, seine Lektorin. Der erste fremde Blick auf einen Text ist ein aufregender Moment. Ein befreiender. „Dann ist man nicht mehr allein mit dem Text. Denn solange man mit ihm allein ist, kann er jederzeit sterben.“
Eine entfernte Fortsetzung von "Kruso" geplant
Schon als er „Kruso“ schrieb, wusste Lutz Seiler, dass er danach noch einen Roman schreiben würde. Daran arbeitet er im Moment. Darüber jetzt, während des Entstehens, zu sprechen, verbiete sich, sagt er. „Das ist noch viel zu sensibles Material. Ich fühle mich da noch sehr am Anfang.“ Nur so viel: Es wird eine entfernte Fortsetzung des „Kruso“ sein, im Ostberlin der 1990er-Jahre. Dort arbeitete Lutz Seiler in einer Kneipe namens „Assel“ in der Oranienburger Straße. Die „Assel“ gibt es nicht mehr. Heute ist dort ein zweigeschossiger Laden. Lutz Seiler hat nie verstanden, was dort eigentlich verkauft wird. Auch darum wird es wohl gehen.
In dem Jahr nach dem großen „Kruso“-Erfolg ging Lutz Seiler auf Lesereise: 111 Lesungen. „Eine Ausnahmesituation, die schön war, aber auch unheimlich zehrte. Ich habe eigentlich ein Jahr gebraucht, um mich davon zu erholen.“ Jetzt weiß er, dass er nach dem aktuellen Roman wieder Gedichte schreiben wird, endlich. „die poesie ist mein schießhund“ heißt ein frühes Gedicht. Es ist Peter Huchel gewidmet, dem diskreten, immer präsenten Mitbewohner.
ZUR PERSON: Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren. Er lebt in Wilhelmshorst bei Potsdam und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloss er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel- Haus. Lutz Seiler schreibt Gedichte, Erzählungen und Essays. 2014 erschien mit „Kruso“ sein erster Roman. Er erhielt mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Deutschen Buchpreis. Eine Bühnenadaption von „Kruso“ war 2016 auch am Potsdamer Hans Otto Theater zu sehen.
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Lesen Sie mehr aus unserer Serie „Potsdamer Schreibtische“ und erfahren Sie, wie Potsdamer Autoren und Autorinnen arbeiten, was sie bewegt und inspiriert. Wie der Schriftsteller John von Düffel, der Disziplin für unersetzbar hält, oder Christine Anlauff, die sich gerne immer wieder neu ausprobiert.
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