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Landleben: Der tiefe Graben bleibt

Werner Bätzing betrachtet Geschichte und Chancen des Lebens auf dem Lande.

Über das Landleben wird zumeist schlecht geredet. Kein Internet und keine Ärzte, zu wenig Arbeit und zu wenig jungen Frauen für die abgehängten Männer, die noch in den Dörfern wohnen. Kinder müssen lange Wege zur Schule und zurück hinnehmen, die letzten selbständigen Bauern unterliegen, wenn sie die Höfe vergrößern wollen, den Landspekulanten.

Die Landwirtschaft? Industriell und pestizidverseucht – und konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt nur, wenn sehr große Betriebe sie übernehmen. Und die Politik? Macht Imagekampagnen, als wäre den Dorfkindern damit geholfen.

Werner Bätzing mag das Land und Dörfer, das spricht aus jeder Zeile seines Buches „Das Landleben“. Doch Bätzing war Professor für Kulturgeografie in Erlangen-Nürnberg, und deshalb idealisiert er nicht, was er untersucht. Sein Buch ist eine Geschichte des Kulturraums Land, der sich durch die Jahrhunderte in engen Verbindungen zur Stadt entwickelt hat. Land und Stadt bedingten und bedingen einander. Das gilt auch in einer Zeit, in der die Städte die Menschen anziehen, die Zukunft anscheinend in den Städten gemacht wird und die Politik sich auf Städte konzentriert.

[Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. Verlag C.H. Beck, München 2020. 302 S., 26 €.]

Glückliche Kühe. Sonnenaufgang über dem Bio-Bauernhof „Stolze Kuh“ in Lunow-Stolzenhagen (Brandenburg).
Glückliche Kühe. Sonnenaufgang über dem Bio-Bauernhof „Stolze Kuh“ in Lunow-Stolzenhagen (Brandenburg).
© Kitty Kleist-Heinrich

Und es gilt für die Zukunft, da ist sich Bätzing sicher. Am Ende seiner Untersuchung entwirft er sechs Szenarien zur Zukunft ländlicher Räume. Das bizarrste geht auf die Lieblingsideen der Stadt-Utopisten zurück und folgt der Leitidee „die Stadt ist das bessere Land“. In diesem Szenario brauchen die Städte das Land nicht mehr. Sie werden durch urban farming versorgt. Ihre Gebäude verbinden Wohnen, Einkaufen, Arbeit und Freizeit auf engstem Raum, sodass Verkehre fast überflüssig werden. In manchen Utopien werde die Stadt von einer riesigen Kuppel überzogen, um Wärme zu behalten. Das Land könnte zur Wildnis werden – und der Mensch wäre reduziert auf ein Leben in einem vollständig künstlichen System. „Käfighaltung“ nennt Bätzing das.

Kulturgeografie ist die Erforschung eines Raums unter verschiedenen Aspekten und aus unterschiedlichen Perspektiven. Demografie gehört dazu sowie Wirtschaft, Statistik und Kultur. Und selbstverständlich Geschichte. Deren Darstellung ergibt, dass das Leben auf dem Land die meiste Zeit alles andere als idyllisch war – im Gegenteil. Trotz der Weite mancher Landschaft waren der persönlichen Freiheit enge bis engste Grenzen gesetzt.

Stadt und Land waren im Mittelalter als Lebensräume gleichwertig

Räumliche und soziale Mobilität sind vor der Kulisse von Jahrhunderten, in denen sich ländliche Räume wenig veränderten, sehr moderne Phänomene. Auch Armut gehörte auf dem Land für viele zum Leben, oft sogar Existenzangst. Eines allerdings kennzeichnet das Landleben bis heute: eine wenig bis gar nicht entfremdete Arbeit – dann jedenfalls, wenn man vom Land lebt und nicht vom Heimatdorf in die nächste Stadt pendelt, um dort am Computer zu arbeiten.

Zumindest bis zu den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich Städte eher rasant, ländliche Räume eher langsam verändert. Auch in den Städten des Mittelalters waren der individuellen Freiheit enge Grenzen gesetzt. Stadt und Land waren als Lebens- und Arbeitsräume gleichwertig, wie Bätzing schreibt, zumal die Bauern die Bürger mit Lebensmittel versorgten. Erst mit der industriellen Revolution geriet das Verhältnis aus dem Gleichgewicht. Die Dampfmaschine verzehnfachte die menschliche Arbeitskraft. Das Land wurde zumindest dort, wo es gute Verkehrswege gab, als Standort für Manufakturen und Gewerbebetriebe interessant. Dorfbewohner konnten, ja mussten Arbeiter werden.

Damit veränderten sich Selbstsicht und Selbstverständnis: Der mittelalterliche Bauer sei in eine Ordnung eingebunden gewesen, die ihm Selbstversorgung und seiner Familie die Lebensgrundlage garantierte. Der „Bürger“, wie er sich nach der Französischen Revolution von 1789 selbst verstand, war frei, aber gezwungen, seine Arbeitskraft zu Marktbedingungen anzubieten.

Menschen mit Ideen und Offenheit sind jetzt gefragt

Auf dem Land hätten viele die Zerschlagung der mittelalterlichen Ordnung als Verschlechterung erlebt. „Dadurch entsteht ein kultureller und politischer Unterschied zwischen Stadt und Land, also zwischen ‚konservativen’ Bauern und ‚fortschrittlichen’ Bürgern, den es in der vorindustriellen Gesellschaft nicht gegeben hatte und der einen tiefen Graben zwischen ländlichem und städtischem Leben aufreißt.“

Der Graben, der Gegensatz, ist geblieben, bis heute. Bätzing zieht sehr lange historische Linien, das erinnert an die Geschichtsschreibung der französischen „Annales“-Richtung. Zumal sein Blick auf die „forcierte Modernisierung des Landlebens zwischen 1960 und 1980“ zeigt, wie Sparprogramme, Verwaltungsideologien und die Veränderung der Arbeitswelt auf Kosten des herkömmlichen Landlebens gegangen sind.

Weder das Reden über „Heimat“ noch das Aufhübschen eines Dorfidylls werden das ändern. Das werden angemessen nur Infrastrukturprogramme können – vor allem aber Menschen mit Ideen und Offenheit, die in die Dörfer ziehen, um etwas Neues zu machen. Die gibt es, und sie sind gar nicht einmal selten.

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