Spielzeiteröffnung am Hans Otto Theater Potsdam: Das Messer in der Wunde
Mit dem Stück „Vögel“ eröffnete das Hans Otto Theater die Corona-Saison. Die fein gearbeitete Inszenierung von Intendantin Bettina Jahnke ist Rausch, Plädoyer für Vergebung - und auch ein bisschen Arbeit.
Potsdam - Was für eine Bühne: anthrazitfarbener Grund, darauf ein gefährlich gezackter Fleck. Blutrot, raumgreifend, frontal. Eine Platzwunde, ein Einschussloch? Später, wenn auf der Bühne vom Anfang aller Dinge die Rede ist, denkt man auch an den Urknall. Erst auf den zweiten Blick ist der dunkle Untergrund als Mauer erkennbar. Sie ähnelt jener, die Palästina von Israel trennt: unüberwindbar hoch.
Dass die Bühne von Juan Léon so beredt ist, keine zwei Sekunden braucht, um dutzende Assoziationen zu wecken, passt zu dem Stück, das hier gezeigt wird. Auch „Vögel“ von dem libanesischstämmigen Autor Wajdi Mouawad, Preisträger des erstmals verliehenen „Europäischen Dramatiker*innen Preises“, ist ein Frontalangriff. Palästina-Konflikt, Holocaust, Rassismus, Antisemitismus, Mutterliebe und Vatermord: Es geht um alles. Im Hans Otto Theater eröffnete „Vögel“ auf den Tag genau 19 Jahre nach 9/11 die Spielzeit im Großen Haus.
Erste Premiere seit dem Lockdown vor sechs Monaten
Als erste Premiere seit dem Lockdown vor sechs Monaten: In dem Saal, wo sonst 450 Menschen Platz haben, streckt jetzt weniger als ein Viertel davon die Beine in die neu gewonnenen Abstände. Etwas weniger Geraune und Geraschel im Publikum als sonst, im Schlussapplaus hörbar weniger Gejubel, vor Corona war auch dafür die Anhängerschaft der Beteiligten da. Aber sonst lässt sich erstaunlicherweise sagen: vor der Bühne im optisch völlig veränderten Zuschauersaal herrscht beinahe business as usual.
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Anders auf der Bühne. Hier herrscht eine Dichte und Konzentration wie lange nicht in Potsdam. Ein Grund womöglich: Die regieführende Intendantin hatte, ein Nebeneffekt von Corona, fünf Wochen Zeit, „Vögel“ im Originalbühnenbild zu proben. Hier und da stehen die Schauspieler reichlich pittoresk vor dem drastischen Hintergrund. Aber: Dem inhaltlichen Frontalangriff von Mouawads Stück, der visuellen Attacke von Léons Bühnenbild stellt Bettina Jahnke eine Regie zur Seite, die alles andere ist als knallig. Jahnke lauscht in den Text, sucht die Konzentration auf Mouawads bildhafte, sich vor keinem Zuviel fürchtende Sprache, auf die vor inneren Konflikten berstenden Figuren. Und Konzentration fordert sie auch von den Zuschauern. „Vögel“ ist weltumspannende Tragödie, Liebesgeschichte, Rausch. Aber auch Arbeit.
Er ist Jude, sie Araberin. Aber das ist anfangs egal
Wer bin ich? Das ist die Frage, die über allem schwebt. Am Anfang steht die Begegnung von Wahida (Alina Wolff) und Eitan (Paul Wilms). Der Urknall, zumindest sieht Eitan das so. Er spricht Wahida in einer Bibliothek in New York an, und ist schon verliebt, als er noch den ersten Monolog hält. Er ist Genetiker, sie Arabistin. Er Jude, sie Araberin. Aber das ist ihnen anfangs egal. Beide glauben an das Einende: Er, dass alles und alle im Wesentlichen aus 46 Chromosomen bestehen (und genetisch auch schöne Frauen nicht so weit weg sind von Hefe). Sie: dass Herkunft nicht darüber entscheidet, wer man ist. Beide, so die These von „Vögel“, irren.
Um das zu zeigen, wird ordentlich konstruiert: Wahida und Eitan reisen nach Israel, werden dort Zeugen eines Selbstmordattentats. Eitan wird verletzt, fällt ins Koma. Das Krankenhausbett ist Dreh- und Angelpunkt für die Geschichte. Erzählt wird in Vor- und Rückblenden, nur eine Lichteinstellung voneinander entfernt. Der todkranke Eitan liegt auf der Bühne in keinem Bett, sondern steht in einem Spalt zwischen zwei Mauerteilen, dort wo der blutige Fleck im Bühnenbild sein Zentrum hat: Hier, im Auge des Orkans, hängt er zwischen Leben und Tod, und natürlich auch zwischen seiner Familie und Wahida. Später wird hier sein Vater hängen. Und Eitan ist Schuld.
Die Wahrheit muss ans Licht
Für Eitans Familie ist die Liebe zu Wahida ein Affront, für seinen Vater (Andreas Spaniol) nichts weniger als ein Angriff auf die Existenz des jüdischen Volkes. Araber, Palästinenser, sind für ihn das Letzte. Was er (noch) nicht weiß: Er gehört selbst dazu. Die Spitzlippigkeit, mit der Eitans Mutter (Kristin Muthwill) Wahidas arabischen Namen abkostet, ist komischer Lichtpunkt in dem sonst eher düsteren Abend. Am entspanntesten sieht die Sache Großvater Etgar (Jörg Dathe), der angesichts einer durchlebten Hölle im Konzentrationslager zu dem Mantra gefunden hat: „Das wird schon wieder.“ Anders Eitans Großmutter Leah. Rita Feldmeier spielt sie als verhärmte Frau mit medusenhaftem Blick und panzergewordener Körperhaltung. Ihre Empfehlung an Wahida: „Kipp dir einen hinter die Binde und lass dich von einem richtigen Kerl ficken.“
Ein paar Szenen später hält diese Leah eine herzzerreißende Eloge auf die Liebe einer Mutter für ihr Kind – die sie sich selbst verwehrt hat. Sie sagt auch den für Mouawad so symptomatischen Satz: „Das Messer in der Wunde muss herausgezogen werden.“ Die Wahrheit muss ans Licht. Denn nichts ist wie es scheint bei Mouawad. Und alle haben sie recht, auch wenn sie hanebüchende Dinge sagen. Das ist überhaupt das Erstaunliche, Streitbare an „Vögel“: Seifenoperndünne Dialoge stehen neben metaphernschwangeren, wie von Sophokles geborgten Monologen, dass es nur so knirscht. Mouawads Texte sind auf gewisse Weise so unmöglich, wie die Welt, die sie beschreiben, kompliziert ist. Aber wer wollte nicht an die Kraft der Liebe, der Vergebung glauben? Dafür tritt „Vögel“ ein.
Karten für „Vögel“ gibt es wieder für die Vorstellungen am 12., 17., 25., und 26. September.
Lena Schneider
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