Bilanz der Berlinale 2021: Berlin darf sich auf einen tollen Kinosommer freuen
Radu Judes böse Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“ ist ein würdiger Bären-Gewinner. Und die genderneutralen Preise in der Schauspiel-Kategorie haben sich bewährt.
Gegenwartsbilder hatte der künstlerische Leiter Carlo Chatrian für den diesjährigen Berlinale-Jahrgang versprochen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für ein internationales Filmfestival. Aber wie Recht er mit seiner Ankündigung behalten sollte, unterstrich am Freitag die Wettbewerbsjury, indem die sechs Juror:innen die rumänische Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“ von Radu Jude mit dem Goldenen Bären auszeichneten.
Jude, der bereits 2015 mit seinem Balkan-Western „Aferim“ den Silbernen Bären gewann, hat indirekt auch einen Film über die Pandemie und ihre zersetzenden Kräfte gemacht, die die Friktionen in der Gesellschaft offenlegen.
Hygienemasken sind heute ein politisches Statement; vergangenes Jahr wurde Judes Landsmann Cristi Puiu von seiner Jury-Aufgabe in Venedig entbunden, weil er sich als Masken- Kritiker geoutetet hatte. In „Bad Luck Banging“ trägt nun ein Priester eine Maske mit der Aufschrift „I can’t breathe“.
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Aber auch der Sex, auf den der Titel von Judes Film anspielt, ist nur ein Nebenschauplatz der gesellschaftlichen Konflikte, die der Regisseur mit seinem filmischen Triptychon ausbreitet. „Bad Luck Banging“ beginnt mit einem Amateurporno, der seiner Protagonistin, einer Lehrerin an einer angesehenen Bukarester Schule, nach einem Leak einen mittleren Medienskandal beschert.
Porno und Politik
Pornografische Bilder gehören auf Filmfestivals inzwischen ja zum guten Ton, aber Jude benutzt dieses „Homemovie“ gezielt, um die Absurdität und Heuchelei der Moraldebatte im letzten Drittel des Films, einer Art Eltern-Tribunal, bloßzustellen.
Dazwischen präsentiert er eine so scharfe wie scharfsinnige Montage aus Found-Footage-Material, die den Faschismus, Rassismus, Sexismus und religiösen Wahn in Rumänien – 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur – brachialkomisch durchdekliniert. „Bad Luck Banging or Loony Porn“, zwischen den Formen Essay, Dokumentarfilm und Farce changierend, ist als politisches Statement tatsächlich Gegenwartskino, das diesem oftmals überstrapazierten Begriff gerecht wird.
Was sonst von diesem ungewöhnlichen Berlinale-Jahrgang bleibt, der hoffentlich im Sommer seine Fortsetzung in den Kinos finden wird, lässt sich nach einem fünftägigen Schnelldurchlauf nicht so leicht klären. „Bad Luck Banging or Loony Porn“ war der einzige Film, in dem die Pandemie sichtbare Spuren hinterlassen hat.
Gegenwartskino ohne Corona und soziale Distanz
Nach 12 Monaten fühlt sich ein Gegenwartskino ohne Corona und soziale Distanz fast wie aus einer anderen Zeit an. Ein Film wie Céline Sciammas „Petite Maman“ entstand in der Phase zwischen den Lockdowns, Aleksandre Koberidzes modernes Märchen „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen“ scheint gar aus allen zeitlichen Zusammenhängen gefallen zu sein. Das könnte ein Grund dafür sein, dass beide Filme, die die Kritik mit ihrer Offenheit und emotionalen Haptik verzückten, am Ende nichts gewannen.
Aber auch ohne Preise haben sie zu zwei überzeugenden Wettbewerben beigetragen, die sich trotz widriger Umstände vielseitig präsentierten und ästhetisch immer wieder zu überraschen verstanden. Die hinreißende Verhaltensstudie „Das Mädchen und die Spinne“ von Ramon und Silvan Zürcher erhielt etwa in der Reihe Encounters den Regiepreis.
Oder der Wettbewerbsbeitrag „A Cop Movie“ von Alonso Ruizpalacios, ausgezeichnet mit dem Silbern Bären für eine herausragende künstlerische Leistung (Montage), der zwischen inszeniertem Polizeialltag, Mockumentary und echten Interviews die umstrittene Rolle der Polizei in Mexiko beleuchtet.
Die Berlinale schreibt Geschichte
Formal weniger ambitioniert arbeitet der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi in seinem Episodenfilm „Wheel of Fortune and Fantasy“ um drei Frauen, der angesichts der Konkurrenz mit dem Großen Preis der Jury etwas zu gut bedient ist. Hamaguchi orientiert sich am klassischen Stil seines Kollegen Hirokazu Koreeda; seine Inszenierung hält sich streng an die Einheit von Raum, Zeit und sozialen Milieus.
Doch erst in der dritten Episode um die Zufallsbekanntschaft von zwei Frauen, die einen überraschenden Verlauf nimmt, zeigt Hamaguchi eine Neugier für seine Figuren, außerhalb männlich dominierter Konfliktzonen.
Ihrer Zeit voraus war die Berlinale im vergangenen Jahr auch mit der Entscheidung, 2021 erstmals genderneutrale Schauspielpreise in den neuen Kategorien „Beste Hauptrolle“ und „Beste Nebenrolle“ zu verleihen – ein Schritt, der angesichts der Geschlechterverhältnisse vor und hinter der Kamera auch auf Kritik stieß. Die Jury um Mohammad Rasoulof, Nadav Lapid, Adina Pintilie, Ildikó Enyedi, Gianfranco Rosi und Jasmila Žbanic hat diese Bedenken mit ihren Auszeichnungen ausgeräumt und damit die wegweisende Entscheidung der Berlinale nachträglich bekräftigt.
Zwei Hauptpreise gehen an deutsche Filme
Maren Eggert gewinnt den Silbernen Bären für ihre Hauptrolle in Maria Schraders Science-Fiction-Romanze „Ich bin dein Mensch“: als eine Altertumsschriftexpertin, die sich widerwillig in einen Androiden (Dan Stevens) verliebt, welcher auf ihre Bedürfnisse programmiert ist. Schraders Film nimmt sich bescheiden aus, aber die Kabbeleien zwischen Eggert und Stevens – sie schottet sich von ihren Gefühlen ab, sein Algorithmus versucht diese zu entschlüsseln – besitzen tatsächlich Screwball-Qualitäten.
Zusammen mit dem Preis der besten Nebenrolle für Lilla Kizlinger in Bence Fliegaufs „Forest – I See You Everywhere“ darf man in diesem Jahr also konstatieren, dass die Männer leer ausgehen – zumindest vor der Kamera.
Mit dem Preis der Jury tragen die sechs Juror:innen der Forderung nach Gegenwartsbildern schließlich am nachdrücklichsten Rechnung. Die Auszeichnung für Maria Speths Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ hat auch in der Zeit von Homeschooling, pädagogischer Verwahrlosung und wachsender Bildungsungleichheit nichts mit programmatischer Festivalpolitik zu tun.
Es ist schlicht ein Lob für die dokumentarische Form, die auf der Berlinale schon immer geschätzt wurde, und eine Würdigung von Speths menschlichem, nie menschelndem Blick auf ihren Protagonisten und seine Schulklasse in einer hessischen Kleinstadt: als Abbild unserer Gesellschaft. Der Film eröffnet einen Mikrokosmos, in den man 3 1/2 Stunden lang eintaucht. Und der die Aussicht auf den Sommer und die Rückkehr der Kinos versüßt.