Bonhoeffer-Biographie: Aus dem Grunewalder Glashaus
Der amerikanische Theologe Charles Marshs beschreibt Dietrich Bonhoeffer als schonungslos - auch mit sich. Eine Rezension
Mit 21 Jahren hat Dietrich Bonhoeffer seinen Doktortitel in der Hand. Dem vielfach Begabten aus bestem Hause steht eine glänzende Karriere als Theologe an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität bevor. Doch es überfällt ihn die Langeweile. Da kommt die Einladung gerade recht, einem deutschen Auslandspfarrer in Barcelona zu assistieren. In seinen Briefen an den Pfarrer fragt er jedoch nicht so sehr nach, welche Aufgaben er in Spanien übernehmen wird. Er möchte vielmehr wissen, welche Garderobe er mitbringen soll und ob es abendliche Gesellschaften gibt. Der Pfarrer antwortet sichtlich genervt: Der neue Assistent solle bitte nicht vergessen, seinen Talar einzupacken, sein geistliches Gewand.
Es ist 70 Jahre her, dass die Nazis Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet haben. Aus diesem Anlass hat Charles Marsh, Theologieprofessor an der Universität Virginia, eine neue Biografie über den evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer geschrieben. Auf 500 Seiten erzählt er mit vielen Details und gut lesbar, wie aus dem „typischen Gewächs eines Grunewalder Glashauses“ Schritt für Schritt ein Vordenker der „Bekennenden Kirche“ wird und schließlich ein Unterstützer des politischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten.
Er prägt die Evangelische Kirche bis heute
Marsh lehrte 2007 als Dietrich-Bonhoeffer-Gastprofessor in Berlin und arbeitete sich durch die 25 Kartons Bonhoeffer-Nachlass in der Staatsbibliothek. Dort trat ihm ein „faszinierend anderer Charakter“ entgegen als der Theologe, den er seit seiner philosophischen Doktorarbeit 20 Jahre zuvor vor Augen hatte, schreibt Marsh. Es gelingt ihm denn auch, Bonhoeffers Leben und theologische Einsichten so zu verweben, dass der Leser gut nachvollziehen kann, wie Bonhoeffer zu einem Glauben findet, der zugleich fromm und weltlich ist und sich im verantwortungsbewussten Handeln äußert. Damit prägt Bonhoeffer die evangelische Kirche bis heute – auch wenn sie nach dem Krieg lange brauchte, um das Erbe anzunehmen.
Bonhoeffer lässt sich von Adolf von Harnacks liberaler Theologie beeinflussen, findet aber auch Karl Barths These inspirierend, dass Gott der „ganz Andere“ sei. Die entscheidenden Impulse gewinnt er nicht aus den Vorlesungen und Büchern, sondern aus der Begegnung mit Menschen. Bei einem Studienjahr in New York 1930/31 freundet er sich mit einem jungen schwarzen Theologen an und ist nachhaltig schockiert über die Rassentrennung in den USA. Als die Nazis kurze Zeit später die Juden diskriminieren und seine eigene evangelische Kirche einen „Arierparagrafen“ einführen will, kritisiert er das scharf – als einer von wenigen deutschen Theologen. Selbst die Bekennende Kirche, die sich 1934 in Opposition zu den Hitler-treuen „Deutschen Christen“ gründet, streitet nicht für den Schutz der Juden, sondern lediglich für die Rettung der eigenen Institution.
Er habe gelernt, „große Ereignisse der Weltgeschichte von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden“, zu sehen, schreibt Bonhoeffer aus der Gefängniszelle 1944. Durch diesen neuen Blick wird ihm das kirchliche Umfeld, die Universität und die eigene großbürgerliche Klasse zunehmend fremd. Auch seine eigenen Schwächen nimmt Bonhoeffer und mit ihm sein Biograf schonungslos in den Blick.
Über seinen Schwager Hans von Dohnanyi kommt Bonhoeffer 1939/40 mit dem politischen Widerstandskreis um Oberst Hans Oster und Admiral Canaris in Kontakt. Er versucht, über seine Auslandskontakte bei der britischen Regierung Unterstützung für die Verschwörer zu mobilisieren, und ist vor allem für die moralische Rechtfertigung eines Attentats auf Hitler wichtig.
Als Anhänger einer Friedensethik sei man nicht zu radikalem Pazifismus verpflichtet, schreibt er. Man müsse anerkennen, dass es im Leben unweigerlich zu Extremsituationen kommen könne, die nach – für einen Pazifisten – inakzeptablen Taten verlangten. Verantwortliches Handeln bedeute, „den Verrückten zu töten“, auch wenn diese Tat das göttliche Gebot bricht, nicht zu töten. Bonhoeffer segnete schließlich die Verschwörer.
Hinweise daraus, dass Bonhoeffer schwul war
Die Gestapo ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nichts von seinen Kontakten zu den Widerstandskreisen. Sie wirft ihm vor, sich vor der Einberufung drücken zu wollen und verhaftet ihn 1943. Dass er den Verschwörern nahesteht, merkt die Gestapo erst zufällig nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944.
Im Widerstand begegnete Bonhoeffer Atheisten und Humanisten, die seinen Horizont weiten und ihn zum Nachdenken über ein „religionsloses Christentum“ anregen. Seine Notizen darüber wirken bis heute aktuell und frisch.
Charles Marsh geht auch detailliert auf Bonhoeffers Verhältnis zu dessen Freund Eberhard Bethge ein und findet viele Hinweise darauf, dass Bonhoeffer homosexuell war. Die These ist nicht neu, Marsh führt sie zum ersten Mal aus. Bonhoeffer und Bethge hatten ein gemeinsames Bankkonto, machten den Familien und Freunden gemeinsame Geschenke. Als Bethge heiratete, konnte Bonhoeffer seine Eifersucht kaum verbergen. Erst danach wendet er sich der zwanzig Jahre jüngeren Maria von Wedemeyer zu.
Eine Schwäche hat das Buch: Es geht mit keinem Wort auf die umstrittene Rolle von Bonhoeffers Vater in der Eugenik-Debatte ein. Karl Bonhoeffer leitete in der NS-Zeit die Neurologie der Charité und war als Gutachter an Zwangssterilisationen beteiligt. Es wäre interessant zu erfahren, ob und wie das zu Hause diskutiert wurde.
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