Nachkommen der Widerständler: Was bleibt vom 20. Juli 1944, vom Attentat auf Hitler?
Das Attentat auf Adolf Hitler sollte die Nazi-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg beenden. Der Umsturzversuch vor 70 Jahren scheiterte – doch die Verschwörer setzten ein Zeichen. Ein Gespräch mit zwei Nachkommen der Widerstandskämpfer über ein schwieriges Erbe.
Herr von Hofacker, Ihr Vater Cäsar von Hofacker hat als Verschwörer gegen Hitler die Familie verlassen und sein Leben geopfert. Ihre Mutter kam in Sippenhaft, Sie selbst haben monatelang in einem Kinderheim bei Bad Sachsa verbracht. Haben Sie Ihrem Vater verziehen?
Von Hofacker: Ja – nachdem ich ihn und sein Handeln zunächst sehr kritisch hinterfragt hatte. Als ich sein Alter erreichte, mein Vater war beim Attentat 48 Jahre alt, habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Hätte ich auch so gehandelt? Und die Antwort war ein klares Nein. Zumal mein Vater bei der Vernehmung durch die Gestapo mit Heinrich Heine zu Protokoll gegeben hatte: „Was schert mich Weib, was schert mich Kind, jetzt geht es um mein Vaterland.“
Harte Worte für einen Familienvater.
Von Hofacker: Ja, das war ein Schock und hat mich lange beschäftigt. Aber letztendlich habe ich mich mit ihm versöhnt und ihn in all seiner Widersprüchlichkeit akzeptiert.
Können Sie sich noch an die Tage um den 20. Juli 1944 erinnern?
Von Hofacker: Oh ja! Sehr genau sogar. Wir wohnten damals in Oberbayern. Dorthin hatte uns mein Vater gebracht. Wir saßen am Abendbrottisch und hörten mithilfe des Volksempfängers den Wehrmachtsbericht. Dann gab es die Sondermeldung, auf Hitler sei ein Attentat verübt worden, das aber scheiterte. Wir waren wie vom Blitz getroffen, hatten ja keine Ahnung, dass der Vater in den Anschlag verwickelt war. Aber meine Mutter verschwand sofort in den Garten.
Warum?
Von Hofacker: Sie machte ein Feuer, an einem strahlenden Sommertag! Erst nach dem Krieg habe ich meine Mutter gefragt, was sie damals verbrannt hat. Es waren Briefe meines Vaters, die vernichtet werden sollten, falls das Attentat scheitert. Einige hat sie allerdings vergraben, die wir später dann lesen konnten.
Aber das Verbrennen der Briefe hat Ihre Familie nicht schützen können.
Von Hofacker: Das stimmt. Zunächst gingen wir zwar zur Tagesordnung über, aber dann fuhr ein paar Tage nach dem 20. Juli ein Auto mit Gestapoleuten und einer Frau in Schwesternkleidung vor. Die sagten meiner Mutter, sie solle für die älteren Kinder und sich Sachen packen. Das Gleiche wiederholte sich kurze Zeit später, dann wurden wir Jüngeren abgeholt und mit einigen Zwischenstationen in ein Kinderheim bei Bad Sachsa gebracht.
Haben diese Ereignisse das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie gestärkt?
Von Hofacker: Das kann ich nicht sagen. Ich war damals gerade mal neun Jahre alt und verstand die Welt nicht mehr. Erst ein Jahr später erfuhren wir, warum die Familie getrennt worden war. Man sagte uns: Ihr könnt stolz auf eure Väter sein. Wir haben nur ungläubig den Kopf geschüttelt.
Was haben Sie in diesem Moment empfunden?
Von Hofacker: Ich glaube, dass hat mich nicht berührt. Mir war nur daran gelegen, nach Hause zu kommen und meine Mutter wiederzusehen. Mein Vater war als Offizier ja für uns ohnehin nur ein Urlaubsvater.
Die deutschen Militärs sind – wenn überhaupt – sehr spät zum Widerstand gestoßen. Dietrich Bonhoeffer zum Beispiel bekämpfte die Nazis schon relativ früh und entschieden. Gibt es einen Widerstand erster und zweiter Klasse?
Korenke: Nein. Das Besondere der Widerstandsgruppen des 20. Juli war ja, dass dort ganz unterschiedliche politische und gesellschaftliche Kräfte zusammenfanden. Konservative wie Sozialdemokraten und Sozialisten. Und solche, die man heute Kommunitarier nennen würde, Protestanten und Katholiken waren Teil der Verschwörung. Sie fanden zusammen, um für das Recht zu kämpfen, für Menschenwürde und letztendlich auch für ein besseres Deutschland.
Von Widerstand war nicht die Rede?
Korenke: Ich bin sicher, dass Leute wie mein Großvater Rüdiger Schleicher und die Bonhoeffers ihr Handeln nicht als Akt des Widerstands bezeichnet hätten. Anständiges Verhalten – so wäre wohl ihre Wortwahl gewesen.
Das klingt sehr bescheiden.
Korenke: Wir sollten uns beim 20. Juli mit so häufig genutzten pathetischen Begriffen wie „Aufstand des Gewissens“ zurückhalten. Je häufiger wir eine derartige Wortwahl nutzen, desto mehr halten wir uns diese Leute vom Leib, stellen sie unerreichbar auf einen hohen Sockel. Das waren aber Menschen, die nicht als Helden geboren wurden, die aber ab einem bestimmten Zeitpunkt wussten, dass sie etwas tun müssen. Gar nicht wenige von denen, die später Hitler und sein Regime bekämpften, sympathisierten anfangs mit dem Nationalsozialismus. Sie haben das als Irrtum begriffen und gehandelt – das ist entscheidend.
Von Hofacker: Auch ich habe eine tiefe Abneigung gegen den Begriff „Helden“. In meiner eigenen Familien gab es allerdings über die Einschätzung des Attentats heftige Debatten. Für meine Schwester ist der Vater bis heute ein Held. Doch er war – wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg – zunächst von Hitler begeistert. Erst im Laufe der Jahre ist er zur Erkenntnis gekommen, dass der Diktator gestürzt werden muss. Mein Vater hat sich mit Sicherheit nicht als Widerstandskämpfer gesehen oder gar als Held. Es ging ihm darum, sein Gewissen zu entlasten. Erst diese Widersprüche in der Biografie meines Vaters haben es mir möglich gemacht, ihn als Mensch zu akzeptieren.
Korenke: Das sehe ich ganz genauso. Nur wenn wir begreifen, dass das Individuen waren mit sehr menschlichen Widersprüchen, kommen sie uns näher. Nur wenn man sie als Familienväter, Ehemänner und Freunde sieht, kann man auch begreifen, was es bedeutet, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Und dann heroisiert man eben nicht, sondern begreift die Männer des Widerstands als Mitmenschen, für die es mehr gab als Anpassen, Mitmachen und die Rettung der eigenen Haut. Es gibt allerdings in Deutschland eine Tendenz, jene Menschen, die gegen den Strom schwammen und Zivilcourage zeigten, emotional nicht an sich heranzulassen.
Inwiefern hat die Geschichte des 20. Juli Ihr Verhältnis zur Bundesrepublik beeinflusst?
Warum ist das so? Wirkt da die Nazi-Propaganda nach, das Schreckbild der Verräter?
Korenke: Das Problem reicht tiefer. Wir tun uns schwer mit dem Respekt vor jenen, die einen Geist vorleben, der das Recht des Menschen gegenüber der Diktatur betont. Denken Sie nur an den Widerstand in der DDR und die dortigen Dissidenten, an Figuren wie Bärbel Bohley. Die sind uns auch zumeist fremd geblieben.
Fällt es gerade den Deutschen schwer, sich mit Nonkonformisten zu identifizieren?
Von Hofacker: Es fällt uns deshalb schwer, weil es sich in der Regel um eine kleine Gruppe handelt. Beim 20. Juli war es im Grunde nur eine Handvoll Menschen, die bereit waren, etwas zu tun.
Korenke: Bei den Verschwörern um Stauffenberg kommt noch etwas anderes hinzu: Sie sind hingerichtet worden. Daran, so beruhigen sich viele, sehe man ja, dass das Ganze sinnlos war.
Mal angenommen, das Attentat auf Hitler wäre geglückt. Hätte das die Geschichte verändert?
Von Hofacker: Nein, alles wäre genauso verlaufen. Die Alliierten hatten doch längst über Deutschland entschieden. Der Krieg hätte womöglich etwas früher ein Ende gefunden. Aber ein erfolgreiches Attentat wäre ohne Einfluss auf die Zeit danach geblieben.
Waren die Verschwörer naiv?
Von Hofacker: Das glaube ich nicht. Sie waren sich sehr wohl darüber im Klaren, dass die Aussichten auf Erfolg gering waren. Aber das war ihnen egal. Es kam nicht auf das Gelingen an, sondern darauf, ein Zeichen zu setzen.
Korenke: Sie wollten zeigen, dass es auch ein anderes Deutschland gibt.
Inwiefern hat die Geschichte des 20. Juli Ihr Verhältnis zur Bundesrepublik beeinflusst?
Von Hofacker: Mir war alles Nationale sehr suspekt. Mich hat der Europa-Gedanke geprägt. Ich habe wohl auch deshalb lange Zeit nicht verstanden, warum viele Deutsche das Kriegsende als Niederlage empfunden haben. Für mich war 1945 das Jahr der Befreiung. Und das ganz wortwörtlich. Im Kinderheim waren wir schon zur Adoption freigegeben.
Gibt es für Sie so etwas wie einen gesunden Patriotismus?
Von Hofacker: Aber klar. Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Der sagte mir damals: Wir dürfen in der Politik das Nationale nicht vernachlässigen. Ich habe mich dann politisch engagiert und bin bis heute Mitglied der SPD. Nur bei der Debatte über eine Verschärfung der Asylgesetzgebung Anfang der 90er Jahre habe ich mit meiner Partei gehadert.
Korenke: Ich bin damals aus der SPD ausgetreten. Vor einiger Zeit bin ich allerdings wieder Mitglied geworden. Aber aus der Geschichte des Widerstands kann man eben auch lernen, wie wichtig eine liberale Asylregelung ist.
Dennoch ist der Tag des Attentats auf Hitler, überhaupt der Widerstand gegen die Nazis im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent. Wie kann man das ändern?
Von Hofacker: Eine wichtige Rolle spielen die Schulen. In den Büchern für den Unterricht ist immer noch vor allem von Stauffenberg und den Geschwistern Scholl die Rede. Andere Formen des Widerstands wie der der Spionagegruppe „Rote Kapelle“ finden nur selten Platz.
Korenke: Der Nationalsozialismus ist ja bis heute sehr präsent. Vielleicht sogar mehr denn je. Nach 70 Jahren entdecken Menschen „plötzlich“ die Nazivergangenheit ihrer Eltern. Die Distanz zum Widerstand lässt sich vielleicht auch damit erklären, dass wir in einer Gesellschaft der Blockwart-Enkel leben.
Das heißt?
Wenn die eigenen Großeltern wie die große Mehrheit der Deutschen mitmachten oder sich zumindest anpassten, fällt es schwer zu akzeptieren, dass es einige wenige gab, die damals anders dachten und handelten. Es gibt so etwas wie eine beruhigende Egalität der Schuld. „Wo alle schuld sind, ist es keiner“, hat Hannah Arendt gesagt. Das scheint mir der Grund zu sein, warum man sich lieber nicht mit dem Widerstand beschäftigen möchte.
Von Hofacker: Was mich vor allem frustriert, ist die Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Freiheiten. Gerade junge Menschen wissen nicht zu schätzen, dass sie frei wählen dürfen. Aber es ist nie zu spät, um gegenzusteuern, sich zu engagieren. Auch das ist ein Vermächtnis des 20. Juli.
Korenke: Zu den Lehren gehört auch: Es gibt immer Handlungsoptionen. Die Freiheit, für den Mitmenschen zu handeln – vielleicht macht genau das den Menschen aus.
So wie Edward Snowden. Seine Enthüllungen über die Abhörpraxis des US-Geheimdienstes NSA, die ja durchaus totalitäre Züge hat, waren auch ein Verrat. Steht Snowden in der Tradition des 20. Juli?
Von Hofacker: Würde man Stauffenberg, der bewusst eine Bombe zündete, um zu töten, heute als Terroristen bezeichnen? Ich glaube, mein Vater schaut heute mit einem Anflug von Lächeln auf uns herab, was wir aus dem 20. Juli gemacht haben und in die Tat hineininterpretieren. Er würde wohl sagen: Wir mussten handeln, das war’s. Nicht mehr und nicht weniger.
Korenke: Man muss mit Analogien vorsichtig sein. Sonst wird man den Menschen nicht gerecht. Wir müssen uns mit diesen Biografien intensiv auseinandersetzen und sie im jeweiligen historischen Zusammenhang sehen. Es ist ein großer Unterschied, ob man in einer totalitären Diktatur handelt oder im Rahmen eines demokratischen, auf Rechtsstaatlichkeit beruhenden Gemeinwesens.
Aber selbst in der deutschen Verfassung scheinen die Lehren des 20. Juli 1944 Eingang gefunden zu haben. Artikel 20 Grundgesetz sieht ein inviduelles Recht auf Widerstand vor – sofern die freiheitliche Grundordnung bedroht und der Staat handlungsunfähig ist. Wie weit reicht denn diese Handlungsoption im Extremfall?
Von Hofacker:Mit der Aufnahme von Absatz 4 im Artikel 20 reagierte der Staat 1968 auf die Turbulenzen im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung. Man muss aber das Widerstandsrecht nicht ausdrücklich gewähren, weil es ohnehin von keinem Gesetz und von keiner Verfassung genommen werden kann. Es ist geradezu paradox, rechtlich festlegen zu wollen, dass man sich dem Unrecht widersetzen darf. Artikel 20 Absatz 4 hat das Widerstandsrecht also nicht aus einem Ghetto befreit. Es blieb eingesperrt, indem man es auf seine gewalttätigen Extremformen wie Aufruhr, Umsturz oder Tyrannenmord reduziert hat.
Korenke: Für die Erhaltung der Demokratie braucht es Zivilcourage. Als Ultima Ratio, nur wenn alle anderen Mittel nicht gegriffen haben, schließt Artikel 20 auch gewaltsame Akte ein. Weil aber physische Gewalt gegen Menschen nie zu rechtfertigen ist, bedeutet Widerstand für denjenigen, der sich in einer äußersten Notsituation dazu entscheidet, die Übernahme von Schuld. Gewaltsamen Widerstand ohne Schuld gibt es nicht. Das war übrigens eine Frage, die viele der Menschen des 20. Juli bewegte.
Und wie sollte man in zehn Jahren des 20. Juli gedenken?
Von Hofacker: Ich wünsche mir eine Veränderung in der Darstellung. Man sollte nicht mehr so wie bisher den Anteil der beteiligten Militärs in den Vordergrund stellen. Die anderen gesellschaftlichen Gruppen müssen Beachtung finden. Und die Vernetzung untereinander.
Korenke: Ich wünschte mir, dass sich deutschlandweit Schüler und Lehrer am 20. Juli Zeit nehmen und Texte, vor allem Briefe von Gegnern des NS-Regimes lesen. Die sind großartig. Da zeigt sich die Menschlichkeit dieser Leute - und das ist doch letztendlich die Grundlage für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das sind zeitlose, immer wichtige Themen. Ein derartiger Lesetag wäre auch deshalb so wichtig, weil der 20. Juli 1944 als historisches Ereignis in der politischen Kultur Deutschlands keine Rolle spielt. Wir haben dieses Erbe ausgeschlagen. Das ist schade.
Lesen Sie hier auch die Ereignisse des 20. Julis 1944 im Ticker-Format.