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Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916).
© dpa

Mythos Verdun: An der Blutpumpe

Der Historiker Paul Jankowski zeichnet nach, wie die Schlacht von Verdun zur epocheprägenden „Jahrhundertschlacht“ wurde. Eine Rezension

Es sind unzählige Bücher über die Schlacht von Verdun geschrieben worden, solche von Soldaten, die an den Kämpfen vom Februar bis zum Dezember 1916 teilgenommen haben, und solche von Publizisten und Historikern, die aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte und inzwischen fast eines Jahrhunderts auf die Schlacht zurückgeblickt und sie in ihren einzelnen Abschnitten dargestellt haben. Jedes weitere Buch, das auf den Markt kommt, bedarf darum einer eigenen Rechtfertigung. Worin unterscheidet es sich von dem, was vorliegt? Bietet es neue Einsichten und Erkenntnisse? Lohnt sich die Lektüre auch für den, der den Verlauf der Kämpfe in groben Umrissen kennt? Immerhin, die Schlacht von Verdun ist ein mythisches Ereignis, mit dem in der Kriegserinnerung der Deutschen allenfalls Stalingrad noch vergleichbar ist.

Sie war nicht einmal die verlustreichste Schlacht des Krieges

Das ist dann auch die erste Frage, die sich der in Boston lehrende Historiker Paul Jankowski vorlegt: Waren die Ereignisse in Verdun tatsächlich so bedeutsam, dass sie im kollektiven Gedächtnis der Franzosen, aber auch der Deutschen immer noch präsent sind? Seine Antwort ist eindeutig: Nein. Verdun war eine Schlacht von vielen im Ersten Weltkrieg, und sie hatte auf dessen Verlauf einen geringeren Einfluss als die meisten anderen großen Schlachten. Was die Verdun-Schlacht im Nachhinein zum Inbegriff aller großen Schlachten des Ersten Weltkriegs hat werden lassen, war ihre Dauer von etwa dreihundert Tagen und der Umstand, dass sie auf einem relativ begrenzten Raum stattfand. Dabei war sie nicht einmal die verlustreichste Schlacht des Krieges, so dass die Zahlen der bei Verdun Gefallenen später maßlos übertrieben werden mussten, um die Sonderstellung von Verdun gegenüber anderen Schlachten herauszustellen. Erst in jüngster Zeit sind diese Zahlen in einer Reihe von akribischen Untersuchungen deutlich nach unten korrigiert worden. Im Bewegungskrieg der ersten Kriegsmonate sind auf beiden Seiten jedenfalls sehr viel mehr Soldaten gefallen als bei Verdun.

Wieso also ist im Titel des Buches von der „Jahrhundertschlacht“ die Rede? Tatsächlich lautet der Untertitel der französischen Originalausgabe nur „Der 21. Februar 1916“, bezieht sich also auf den Tag, an dem der deutsche Angriff auf die Festungssysteme an der Maas begann, und die englische Ausgabe spricht im Untertitel von der „längsten Schlacht des Großen Krieges“. Eigentlich geht es Jankowski nämlich darum, den Mythos Verdun zu entmystifizieren, um erst im Anschluss daran zu erklären, wie diese Schlacht zum Gedächtnisort für den gesamten Krieg in Nordfrankreich werden konnte. In diesem Sinne irritiert der für die deutsche Ausgabe gewählte Untertitel zunächst, und erst ab der Mitte des Buches wird allmählich klar, wie ein von den Generalstäben beider Seiten zunächst keineswegs für entscheidend gehaltenes Ringen zur „Jahrhundertschlacht“ werden konnte. Diese analytische Kreisbewegung, in der der Mythos Verdun zunächst seziert und dann wieder zusammengesetzt wird, ist zugleich die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach neuen Erkenntnissen und dem Ertrag der Lektüre: Man blickt nicht nur auf ein Ereignis, sondern vor allem in dessen erzählerische Komposition, seine Aufladung mit Symbolen, die Konstruktion von Rechtfertigungen und Anklagen und schließlich die Aufladung des Leidens und Sterbens mit Sinn. Das macht den Unterschied von Jankowskis Arbeit zu früheren Darstellungen – von der Sachlage her bringt sie eigentlich wenig Neues, aber sie ist ungleich reflektierter und analytischer in Aufbau und Komposition, und das macht sie zum zurzeit wohl besten Buch über Verdun.

Aber warum haben die Soldaten weitergekämpft und nicht gemeutert?

Hatte der deutsche Generalstabschef von Falkenhayn einen Plan, als er die Offensive bei Verdun vorbereitete? Er selbst hat später von der „Blutpumpe“ gesprochen, die er den Franzosen angesetzt habe, und vom „Weißbluten“ des Gegners, das diesen zum Aufgeben bringen sollte, aber womöglich waren das nur nachträgliche Rationalisierungen. Die „Weihnachtsdenkschrift“, mit der Falkenhayn Kaiser Wilhelm II. von seinen Plänen überzeugt haben will, ist in den Archiven jedenfalls nie gefunden worden. Vielleicht wollte er mit den Angriffen bei Verdun die Briten und Franzosen auch nur zu Entlastungsoffensiven an anderen Fronten provozieren, um deren gemeinsame Planungen für das Kriegsjahr 1916 durcheinanderzubringen. Abschließend wird sich das nicht mehr entscheiden lassen. Aber auch die französische Seite ließ sich zunächst nur widerwillig auf die große Schlacht ein; zeitweilig wurde sogar erwogen, Verdun aufzugeben und den deutschen Angriff ins Leere laufen zu lassen.

Paul Jankowski: Verdun. Die Jahrhundertschlacht. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015. 427 Seiten, 26,99 Euro
Paul Jankowski: Verdun. Die Jahrhundertschlacht. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015. 427 Seiten, 26,99 Euro
© S.Fischer Verlag

Aber warum haben beide Seiten, wenn sie dem Raum Verdun strategisch doch nur eine untergeordnete Bedeutung beimaßen, dann dreihundert Tage lang buchstäblich um jeden Quadratmeter Boden gekämpft? Sie seien, so Jankowski, in drei Fallen hineingelaufen, aus denen sie dann nicht mehr herauskamen: die Offensivfalle, also die Vorstellung, man müsse angreifen, um das Heft des Handelns in die Hand zu bekommen; die Prestigefalle, die Furcht, dass das Einstellen der Angriffe dem Eingeständnis einer Niederlage gleichkomme; und schließlich die Zermürbungsfalle, die Idee, man könne den gegnerischen Willen durch kontinuierliche Verluste immer weiter ermatten. Das war im Übrigen auch der Grund dafür, warum man die Verluste der Gegenseite maßlos übertrieb. Verdun, so Jankowskis Resümee, war ein Missverständnis, aus dem keine der beiden Seiten mehr herauskam.

Aber warum haben die Soldaten dann weitergekämpft und nicht gemeutert, den Angriff verweigert oder massenhaft kapituliert, wie die Franzosen das im Frühjahr 1917, die Russen im Herbst desselben Jahres und die Deutschen im Herbst 1918 taten? Jankowski kann auf der Grundlage von Briefen, Tagebüchern und Regimentsakten zeigen, dass die sogenannte „Moral der Truppe“ bei Verdun mehrfach auf der Kippe stand, dass der Grad der Desillusionierung aber noch nicht so weit fortgeschritten war, dass die Soldaten von sich aus den Kämpfen ein Ende gesetzt hätten. Die Imaginationen des Feindes und die Loyalität gegenüber den eigenen Leuten hinderte sie daran. Jankowski legt nahe, dass es gerade dieses Schwanken und das dann doch erfolgte Durchhalten war, das die Mythisierung der Verdun-Schlacht nicht nur ermöglicht, sondern geradezu erzwungen hat. So ist Verdun zum Symbol des Großen Krieges geworden und es bis heute geblieben: Der Krieg im Osten ist aus dem kollektiven Gedächtnis ebenso verschwunden wie aus den Geschichtsbüchern, und vom Krieg im Westen ist ebenfalls nur noch wenig präsent – außer der strategisch sinnlosen Schlacht von Verdun. Verdun ist das Symbol für die Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Deswegen kann man sie als die „Jahrhundertschlacht“ bezeichnen.

– Paul Jankowski: Verdun. Die Jahrhundertschlacht. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015. 427 Seiten, 26,99 Euro.

Herfried Münkler

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