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 der Kampf zum Stillstand kam. Deutsche Soldaten bauen im November 1915 ihre Stellungen in den Argonnen aus.
© IMAGO

Herfried Münkler über den Ersten Weltkrieg: Das große Sterben

Die letzte umfassende Studie eines deutschen Autors über den Ersten Weltkrieg kam 1968 heraus. Jetzt hat sich der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler mit dem Thema beschäftigt. Sein 900-Seiten-Buch über den "Großen Krieg" ist ein Meisterwerk.

Der Erste Weltkrieg war nicht unvermeidlich. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie ihn der amerikanische Diplomat George F. Kennan nannte, war das Ergebnis eines beispiellosen politischen Versagens. Wie die Akteure auf beiden Seiten der Front im Sommer 1914 in einen Krieg stolperten, den eigentlich keiner wollte, das schildert Christopher Clark in seinem Bestseller „Die Schlafwandler“. Die Entscheidungsträger hatten durchaus Optionen. Aber sie waren überzeugt, unter Zwang zu handeln. Herfried Münkler, der nun ein monumentales Buch über den „Großen Krieg“ veröffentlicht, spricht von einer „Fatalismusfalle“. Europas Politiker glaubten, dass es irgendwann ohnehin zum Krieg kommen würde. Deshalb folgte ihr Handeln den Mustern einer self-fulfilling prophecy. Dieser Mangel an Mut und Fantasie kostete 20 Millionen Menschen das Leben.

Lange Zeit war der Erste Weltkrieg ein Gegenstand leidenschaftlicher Debatten. So löste der Hamburger Historiker Fritz Fischer 1961 mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ eine Kontroverse aus, die bis heute nachwirkt. Deutschland, behauptete Fischer, habe systematisch auf einen Krieg hingearbeitet. In dieser Interpretation erschien der Erste Weltkrieg bloß noch als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, als Ausgangspunkt – so Münkler – „einer Erzählung von deutscher Hybris und deutscher Schuld“. Der These von der deutschen Kriegsschuld widerspricht Münkler – und liegt damit ganz auf einer Linie mit Clark. Säbelrasselnder Militarismus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs ein deutscher Sonderweg. Russland hatte ein größeres Heer, Frankreich einen höheren Anteil an eingezogenen Wehrpflichtigen. Als der Krieg begann, war Deutschland nur schlecht auf ihn vorbereitet. Es gab weder ausreichende Munitionsvorräte noch genug Truppen für eine Offensive.

Verhängnisvoll war etwas anderes: die deutschen Niedergangsängste und Einkreisungsobsessionen. Das Wilhelminische Kaiserreich sah sich von Feinden umstellt und fürchtete einen Zweifrontenkrieg. Den Ausweg aus dem Bedrohungsszenario suchte es in einer offensiven Militärstrategie. Der bereits in den 1880er Jahren entwickelte, nach dem Generalstabschef benannte „Schlieffen-Plan“ sah vor, dass das Deutsche Reich seine Hauptkräfte zunächst gegen Frankreich wenden und es besiegen sollte, um anschließend den Kampf gegen Russland aufzunehmen. Militärisch waren diese Planungen stimmig, politisch beruhten sie allerdings auf der irrigen Annahme, dass Großbritannien tatenlos zusehen würde, wenn Deutschland versuchen würde, zur Vormacht auf dem Kontinent aufzusteigen.

Deutsche Truppen überschritten am 4. August 1914 die belgische Grenze, laut Plan sollten sie innerhalb von einer Woche bis nach Frankreich vorstoßen. Großbritannien reagierte auf die Verletzung der belgischen Neutralität mit dem Kriegseintritt an der Seite von Frankreich und Russland. Enttäuscht wurden die deutschen Hoffnungen, dass Belgien weitgehend auf Widerstand verzichten würde. Der deutsche Angriff stockte bereits an der Festung Lüttich, die erbittert verteidigt wurde. Später kam es immer wieder zu Gefechten mit kleinen belgischen Einheiten, die aus dem Hinterhalt angriffen.

Die belgischen Soldaten trugen seltsame Uniformen, zu denen zylinderartige Hüte gehörten. Sie konnten leicht für bewaffnete Zivilisten gehalten werden. Die deutschen Soldaten fürchteten, in einen Partisanenkrieg zu geraten und stellten die vermeintlichen Heckenschützen an die Wand. In vielen Städten kam es zu Gewaltexzessen gegenüber der Zivilbevölkerung. Berichte über die Kriegsgräuel führten zu weltweiter Empörung. Den Krieg der Bilder und Worte, konstatiert Münkler, hatte Deutschland bereits im Herbst 1914 verloren.

„Der Große Krieg“ ist – man glaubt es kaum – die erste umfassende Studie über den Ersten Weltkrieg von einem deutschen Autor, die seit 1968 herauskommt. Münkler erzählt lebendig und höchst anschaulich, wobei die Perspektive ständig zwischen „oben“ und „unten“, den Plänen der Generäle und den Erlebnissen der einfachen Soldaten wechselt. Wenn er die Kämpfe beschreibt, dann benutzt er durchaus Begriffe wie „Mut“ und „Tapferkeit“, aber das heißt nicht, dass er die Leistungen der Soldaten heroisieren würde. Verdun, wo auf einem etwa 300 Quadratkilometer großen Schlachtfeld 320 000 Franzosen und 280 000 Deutsche starben, nennt er ein „Symbol der Sinnlosigkeit des Krieges insgesamt und eines menschenverachtenden Zynismus insbesondere der deutschen Seite“.

Als das Kaiserreich im September 1914 die Schlacht an der Marne verloren hatte, war klar, dass der Schlieffen-Plan gescheitert war. „Welche Ströme von Blut sind schon geflossen (...), mich überkommt oft ein Grauen“, schrieb Generalstabschef Helmuth von Moltke, der bald darauf abgelöst werden sollte, in einem Brief an seine Frau. Auf den festgefahrenen Krieg folgten Entscheidungsschlachten ohne Entscheidung. Nachdem sich 1915 auf beiden Seiten der Front Erschöpfung breitmachte, wäre es an der Zeit gewesen, nach Möglichkeiten zur Beendigung der Kampfhandlungen zu suchen. Doch die Propaganda setzte weiter auf einen „Siegfrieden“. Der Krieg, urteilt Münkler, wurde „auch darum weitergeführt, weil sich die Politiker vor Auseinandersetzungen im Inneren fürchteten“.

Während der Krieg im Osten in Bewegung blieb und die deutschen Truppen bei Tannenberg über ihre russischen Gegner triumphierten, war der Krieg im Westen auf einer Länge von 700 Kilometern zum Stillstand gekommen. Wie Münkler den Alltag im Schützengraben schildert, ist meisterlich. Es war ein Alltag, zu dem Verwesungsgerüche gehörten, denn die Gefallenen im Niemandsland blieben dort oft wochen- oder monatelang liegen. „Dunkle und wächserne Mumienschädel liegen da herum, mit Würmern und Insekten dicht bedeckt, aus Spalten blecken weiße Zähne“, schreibt Henri Barbusse in seinem 1916 erschienenen Kriegsroman „Das Feuer“. „Das Leben mit den Toten wurde zum Charakteristikum des Stellungskriegs“, bemerkt Münkler.

Die Flandernschlacht, bei der die Briten im Juli 1917 versuchen, die deutschen Linien zu durchbrechen, entwickelt sich zum Inferno. Als die Kämpfe im November abflauen, befinden sich die Frontlinien wieder dort, wo sie bei Beginn der Offensive gelegen hatten. Die Schlacht ist, so Münkler, „ein Akt der Verschwendung von Leben und strategisch sinnlos“. An ihr zeigt sich aber auch, warum die deutschen Soldaten so lange standhielten. Aus dem Umstand, einen materiell überlegenen Feind zurückgeschlagen zu haben, erwuchs das Gefühl, die Gefechte ergäben einen Sinn. „Wir hatten unseren Teil dazu beigetragen, den mit so mächtigen Kräften begonnenen Angriff zum Stillstand zu bringen. Wie gewaltig auch die Menschen und Materialmengen waren, so wurde die Arbeit an den entscheidenden Punkten doch nur von wenigen Kämpfern vollbracht“, notierte Ernst Jünger.

Spätestens seitdem im Sommer 1917 der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg gestürzt worden war, war Deutschland auf dem Weg in eine Militärdiktatur. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, populär seit seinem Sieg in der Schlacht von Tannenberg, stieg zu einer Art Nebenkaiser auf. Die Fäden aber zog sein Generalquartiermeister Ernst Ludendorff. Zwar verabschiedete der Reichstag eine Resolution, in der er sich für einen Frieden ohne Annexionen aussprach, doch dabei hatten die Parlamentarier, so Münkler, missverstanden, dass es schon längst nicht mehr um Resolutionen ging, sondern um „den Griff nach der Macht“. Im März 1918 ließ Ludendorff die deutschen Truppen noch einmal zu einer sinnlosen Offensive antreten. Die Kapitulation zu unterschreiben, das hat er dann den Politikern überlassen.

Herfried Münkler: Der Große Krieg.

Die Welt von 1914 bis 1918. Rowohlt Berlin. 905 Seiten, 29,95 €. – Am heutigen Montag, 2. Dezember, stellt Münkler sein Buch im Deutschen Historischen Museum vor (19 Uhr). Der Eintritt ist frei.

Herfried Münkler, 62, lehrt Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Er veröffentlichte Bücher über Clausewitz, Machiavelli, Hobbes und asymmetrische Kriege.

Christian Schröder

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