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Gregor Gysi steht gerne auf Bühnen.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Gregor Gysis Autobiografie: Am Rockzipfel der Geschichte

Gregor Gysi legt seine Autobiografie vor. Der Linke aus dem Osten zeigt, dass er im Westen angekommen ist.

Der erste Satz, „Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ,ich‘ beginnen soll“, ist der Schlüsselsatz für den Aufbau der Autobiografie und die Persönlichkeit des Autors. Der Text ist über Strecken noch egomanischer, als Autobiografien es ohnehin schon sind. Aber immer wenn es ganz dicke wird, folgt ein nachdenklicher, humorvoller oder selbstironischer Einschub. Sei es, dass der Autor den Leser wissen lässt, dass er sein überschäumendes Ego selbst zu reflektieren in der Lage ist, sei es, dass ein umsichtiger Ghostwriter die Notbremse gezogen hat.

Sein Erzählung erinnert an Forrest Gump

Über weite Strecken liest sich die Autobiografie, als ob das Vorbild des durchschnittsamerikanischen Film- und Romanhelden, Forrest Gump, unterwegs gewesen wäre. Überall, wo die Hauptfigur auftaucht, tut sich Entscheidendes. Als die SED wegen der Proteste gegen die Verurteilung des Regimekritikers Rudolf Bahro nicht weiterweiß, rät einer zur Amnestie, und Bahro kommt in den Westen. Als die SED den Anschluss an die Massen endgültig zu verlieren droht, hat einer die Idee zur Großdemonstration am 4. November auf dem Alexanderplatz. Als Egon Krenz zum falschen Moment im ZK-Gebäude aus der Tür tritt, fordert einer seinen Rücktritt und wird bald darauf Parteivorsitzender; und wenn nicht jemand den Beschlusstext des DDR-Parlamentes rechtzeitig korrigiert hätte, wir würden immer noch auf die deutsche Einheit warten. Leider hat es Gorbatschow nicht geschafft, kurz vor seiner Begegnung mit Helmut Kohl im Kaukasus Gregor Gysi anzurufen, die Vereinigung, wir ahnen es, wäre sonst besser gelungen. Denn im Gegensatz zum amerikanischen Gump schlittert sein ostdeutsches Alter Ego nicht in die Ereignisse hinein – er ist im Gegenteil der Einzige, der durchblickt.

Fröhliche Gesellen. Der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi redet auf der ersten Sitzung des gesamtdeutschen Parlaments in Berlin am 4. Oktober 1990, einen Tag nach Vollzug der deutschen Einheit.
Fröhliche Gesellen. Der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi redet auf der ersten Sitzung des gesamtdeutschen Parlaments in Berlin am 4. Oktober 1990, einen Tag nach Vollzug der deutschen Einheit.
©  Wolfgang Kumm/dpa

All diese Geschichten könnte man natürlich auch differenzierter erzählen: Die Amnestie war schlicht die zum 30. Jahrestag der DDR, die Idee zur Großdemo hat parallel auch das Neue Forum gehabt, und so weiter. Aber es geht nicht um die historische Wahrheit, sondern um eine Saga: Wir sind einigermaßen anständig durch die DDR gekommen, haben unseren Anteil an der Wende …

Die Lust am Fabulieren ist gebremst

Die Person Gysi, Jahrgang 1948, der fast so alt ist wie das sozialistische Experiment auf ostdeutschem Boden, eignet sich durchaus für einen Entwicklungsroman, dessen Held erst den Untergang seiner Heimat erlebt und dann das westliche Neuland betritt. Da wird dann im Nachhinein manches vorlaute Wort an der Uni hochstilisiert, manche Anpassungsleistung als SED-Anwaltsfunktionär in der DDR heruntergespielt. Dennoch ist Gysi in manchem vorsichtiger geworden, weil neue Veröffentlichungen seine Lust am Fabulieren gebremst haben. Unterlassen wird die vormalige Behauptung, er habe für den Regimekritiker Bahro Freispruch beantragt. Inzwischen ist nämlich sein Anwaltsplädoyer öffentlich, in dem er sich, bevor er die Anklageschrift kritisiert, auf eine Weise von seinem Mandanten distanziert, dass dies wie eine Vorverurteilung klingt.

Sein neues Buch.
Sein neues Buch.
© promo

Früher kalauerte er bloß, er habe außer einer Parkkarte vor dem Gericht keine Privilegien genossen. Heute räumt er zahlreiche Auslandsdienstreisen ein. Manch unterprivilegierter DDR-Bürger hätte gerne mit ihm getauscht. Ein Jurist könnte möglicherweise auf die Idee kommen, Gysi im Nachhinein Einstellungsbetrug gegenüber der Parteibasis vorzuwerfen. Tempi passati. Weglassung und Übertreibung sind schließlich klassische Stilmittel. So wird zwar seitenweise ausgebreitet, wie „Gysis bunte Truppe“ sich mit einem Hungerstreik gegen eine ungerechtfertigte, existenzbedrohende Steuerforderung wehrt. Die Finanzjonglierereien mit der Verteilung des Parteivermögens der PDS auf Strohmannfirmen, die auf Außenstehende wie das Gebaren eines Mafia-Clans ausgesehen haben mochten und die Frage nahelegten, wer denn in diesem Spiel der Pate war, ist Gysi keine Seite wert. Über das Streitthema möglicher Stasiverwicklungen huscht Gysi mit einer viertelseitigen Suada hinweg. Sicher wird Gysi eines Tages eher als der gelten, der einen Haufen Diktaturanhänger mehr oder minder in die Demokratie geführt hat und weniger als der, der in den Stasi-Akten Spuren mit den wechselnden Codenamen „Notar“, „Gregor“ oder „Sputnik“ hinterlassen hat.

Doch weglassen kann man die Dutzende von Akten, in denen das MfS ihm aus damaliger Sicht konspirative Zusammenarbeit bescheint hat, deswegen nicht. Gysis Anekdotengedächtnis erinnert zwar präzise jede Sektflasche, die ihm in Bedrängnis ein Fan zukommen ließ. Dass er seine letzte Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin eilig zurückzog, als er befürchten musste, das Gericht werde die Identität von IM „Notar“ feststellen, vermisst man in diesem Buch denn doch.

Gysis Leben in der Bundesrepublik

Kanzleramtsminister Peter Altmaier hat Anfang Oktober bei der Buchvorstellung im Deutschen Theater schon künftige Elogen vorweggenommen: Gysi sei inzwischen eine Bereicherung des politischen Alltages. Dem Umschwärmten schien das sichtlich zu gefallen. Teil zwei seiner Autobiografie handelt zunächst von Widrigkeiten, mit denen ein ehemaliger SED-Funktionär in der Bundesrepublik nach 1990 zu kämpfen hatte. Manchmal wirkt das etwas larmoyant. Manchmal macht es im Nachhinein auch betroffen, wie primitiv und bisweilen antisemitisch konnotiert die westlichen Abwehrreaktionen waren. Leider kann es sich Gysi nicht verkneifen zu behaupten, dass er in der DDR nie antisemitischen Angriffen ausgesetzt gewesen sei, was in der heutigen Situation wenig passend wirkt.

Auch Fidel Castro ließ sich von Gysi inspirieren

Gysi kann ein durchaus feinsinniger, zuweilen feinnerviger Beobachter sein, der seine Betrachtungen zu Personen und Situationen pointiert und humorvoll zu Papier zu bringen weiß. Das macht so manche Längen dann wieder erträglich. Nicht jede Pirouette der Linkspartei wäre wirklich erzählenswert, würde man nicht nebenher viel über die wachsende Männerfeindschaft zu Lafontaine erfahren. Seine Schilderungen über die kurze Zeit als Berliner Wirtschaftssenator scheinen länger als die Tätigkeit selbst, so als könne einer auf den Gedanken kommen, er habe sich nicht ausreichend ins Zeug gelegt. Die Darstellung der Besuche bei den Großen der Welt und seiner Auftritte im Bundestag wirken manchmal, als habe man einem Ghostwriter seinen Kalender und einen Stapel Texte zur Zusammenfassung auf den Tisch gelegt. Gelegentlich lässt auch Gump wieder grüßen: Fidel Castro verwendete in Reden bald neue Argumente, nachdem er seinen Gast aus Deutschland empfangen hatte.

Schritt für Schritt wird deutlich, wie sehr, aller pflichtgemäßen Klage über die Benachteiligung des Ostens zum Trotz, Gysi und die Bundesrepublik zueinanderfinden. Der Linke aus dem Osten ist erstaunlich milde. Über der Schelte steht die „Neugier auf Deutschland“, der Kapitalismus ist „ungewöhnlich freundlich“, über politisches Personal anderer Parteien, darunter Helmut Kohl, weiß er mehrfach empathische Begegnungen zu berichten. Dass im PDS-Programm eigentlich „sozialistische Marktwirtschaft“ stehen sollte – keiner wusste, was das ist –, und durch Stille-Post-Effekte daraus ein Bekenntnis zur „sozialen Marktwirtschaft“ wurde, findet Gysi heute einfach nur lustig.

Gysi ist inzwischen gut integriert

Er stellt sich als sehr pragmatischer Linker dar, der die Umgestaltung der Nato – den programmatischen Stolperstein gegenüber der SPD – nur noch als Langzeitvision verstanden wissen will; der angesichts der AfD am liebsten mit allen über eine neue politische Kultur verhandeln möchte. Altmaier hat dies, als ob er die Umklammerungsstrategie witterte, zwar geschickt umgangen, ganz weggebissen hat er Gysi aber keineswegs.

Man merkt, der linke Gump des Ostens ist längst in der berühmten Mitte der Gesellschaft angekommen – bis hin zum Auftritt „wider den tierischen Ernst“ vor der Aachener Karnevals-Bourgeoisie. Seine bürgerliche und sogar adlige Ahnengalerie wird konsequenterweise immer länger. Teil zwei der Saga, „Wir mussten uns gegen West-Widerstände durchsetzen, aber wir sind heute wer“, bedient das Gefühl vieler Angehöriger der ehemaligen Ost-Eliten – und hat sie auch irgendwie in den Westen mitgenommen.

Sich selbst hat er schon einen Platz zugewiesen, den das Statut der Linkspartei eigentlich nicht vorsieht: Da die Funktion des Ehrenvorsitzenden mit dem ewigen Hans Modrow besetzt ist, redet er beständig davon, dass er immer der Anwalt seiner Partei und natürlich darüber hinaus des Ostens – wenn nicht der Menschheit – gewesen sei. Und so sieht man ihn deutlich mindestens neben, wenn nicht gar über seiner Partei schweben.

Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 583 S. m. 45 Abb., 24 €.

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