DDR-Vergangenheit: Eine offene Wunde bis zur letzten Instanz
Gregor Gysi und die Söhne von Robert Havemann und Rudolf Bahro erinnern sich an die Vergangenheit – jenseits der Aktenlage.
Manchmal muss Gregor Gysi in die letzte Instanz. In seinem Lieblingslokal gibt es alles, was der Anwalt braucht: Vom "Plädoyer“ bis zur "Urteilsverkündung“. So heißen die Gerichte im Restaurant "Zur letzten Instanz“, der angeblich ältesten Berliner Gaststätte im Osten der Stadt. Gysi bestellt das „Beweismittel“ – Kohlroulade mit Püree. Er sitzt erstmals mit den Söhnen seiner berühmtesten Mandanten, den inzwischen gestorbenen DDR-Dissidenten Rudolf Bahro und Robert Havemann, zusammen.
Es geht um seine Rolle als Rechtsanwalt in der DDR und den Vorwurf, er habe vor 30 Jahren als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi seine Klienten verraten. So wenig seine Gegner das belegen können, so schwer ist es für den Bundestagsfraktionschef der Linken zu beweisen, dass er nicht für die Stasi gearbeitet hat. Die Leiterin der Stasi- Unterlagenbehörde, Marianne Birthler, sagt, Gysi habe „willentlich und wissentlich“ für die Stasi gearbeitet. Weggefährten berichten, kaum etwas treffe Gysi so schwer in seiner Würde und Berufsehre wie dieser Vorwurf. Eine offene Wunde.
Debatte setzt Gysi schwer zu
Der 60-Jährige deutete in einer denkwürdigen Parlamentssitzung Ende Mai an, dass die seit Jahren andauernde Debatte ihm gesundheitlich geschadet habe. Der sonst so begnadete Redner las vom Blatt ab, musste mehrfach schlucken.
Mandantenverrat. Florian Havemann versucht nicht, die Geräuschkulisse im vollen Lokal zu übertönen. "Bei Mandantenverrat müsste ein Strafverfahren eingeleitet werden“, sagt der 56-Jährige, der Laienrichter am Verfassungsgericht Brandenburg ist. "Es hat aber nie einen Prozess gegen Gysi gegeben.“ Fakt sei, dass es seinem Vater besser und nicht schlechter erging, nachdem Gysi das Mandat übernommen hatte: Die Repressalien gegen den Staatsfeind Nummer eins der DDR ließen nach, der Hausarrest wurde ausgesetzt, es gab keine Strafverfahren mehr. Worin also bestehe der Verrat?
Havemann: "Gregor Gysi war für ihn ein Mittler, ein Diplomat"
Havemann sagt: „Für meinen Vater war Gysi der Sohn von Klaus Gysi. Mein Vater wollte einen Deal mit der Parteiführung. Er hatte in dieser Zeit des Kalten Krieges auch Angst um seine DDR, mit der er sich völlig identifizierte. Er wollte Honecker wissen lassen, dass er seine Kritik an der DDR zurückfahren werde.“ Sein Vater habe gehofft, über Gysis Vater, Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR, zu den Oberen Kontakt zu bekommen. – ein sehr erfolgreicher“, sagt Florian Havemann.
Gysi bestätigt nur, dass es ein Gespräch zwischen seinem Vater und dem DDR- Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gegeben habe. „Auf Bitten Havemanns.“ Worum es ging? Schweigen. Er beruft sich auf seine Schweigepflicht als Anwalt. Aber es gebe keine Wahrheiten, vor denen sein Vater heute geschützt werden müsse, sagt der Sohn. Gysi sagt, der Bruch der Schweigepflicht sei strafbar.
"Zu glauben, es wäre so gewesen, wie es in den Akten steht, wäre abgrundtief falsch“, sagt Florian Havemann. Er kennt die Methoden: Als 16-Jähriger saß er 1968 vier Monate in Haft, weil er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatte. In den Stasi-Unterlagen seien Protokolle von Gesprächen zu finden, die so nie geführt worden seien, sagt er. "Die Stasi produzierte Akten. Alles im Stasi-Deutsch formuliert, davon nicht ein Wort, wie man es selbst gesagt hat.“
1971 floh der Sohn des Regimekritikers in den Westen, weil er das System nicht mehr ertrug. Den Segen des Vaters bekam er nicht. "Er hatte immer an den Sozialismus geglaubt. Ich nicht mehr.“ Es blieb ein unversöhnlicher Abschied. Seinen Sohn sah Havemann nicht wieder.
Gysi setzte sich für die Ausreise von Andrej Bahro ein
Für Andrej Bahro trägt seine letzte Begegnung mit der DDR den Namen Gysi. Dieser Tag im Oktober 1979 hat sich bei ihm eingebrannt: Volkspolizisten bringen den 17-Jährigen in Prenzlauer Berg aufs Amt. Stahltüren schlagen hinter ihm zu und er fürchtet, sie werden sich nie wieder öffnen. Stunden später nehmen ihm Stasi-Leute in schwarzen Ledermänteln alle Ausweise ab. Familie Bahro kann ausreisen. In abgedunkelten Fahrzeugen werden der Vater, die Mutter mit den Kindern und die Freundin des Vaters zur Grenze gefahren. Anwalt Gysi begleitet den Mandanten im ersten Wagen. Dann steigt er aus. Die Kolonne fährt zu einer Lichtung. Andrej Bahro glaubt, dass sie nun erschossen werden. Aber sie bekommen Verpflegungspakete. Er rührt sie nicht an, denn nun ist er sicher, sie werden vergiftet. Das Picknick soll aber nur Zeit überbrücken: Der Zug in den Westen ist noch nicht da, die Bürger der DDR sollen den von der SED gehassten Dissidenten nicht sehen. Wenig später wird die Familie von Journalisten in Helmstedt umringt.
Gysi sagt, er habe damals eine speziell auf Bahro und einen weiteren Mandanten gemünzte Amnestie zum 30. Jahrestag der DDR erwirkt. "Die Kunst bestand darin zu sagen, dass es auch der DDR schadet“, sagt er – die Partei vermerkte, dass "man besser rechtzeitig versuchen sollte, in die BRD abzuschieben“. Bahro wollte in den Westen. "Und ich wusste, über Bahro entscheidet Honecker selbst.“
Am 30. Mai 2008 sieht Andrej Bahro in seiner Bremer Wohnung die Liveübertragung der Aktuellen Stunde im Bundestag zu Gysi. Er sagt, dies sei eine der schlechtesten Stunden der Demokratie gewesen, ein Tribunal. Seine eigene Stasi-Akte hat er nie gelesen: „Sind so viele falsche Angaben.“ Deshalb interessiere ihn die Stasi-Unterlagenbehörde nicht. Kristina Dunz, dpa
Kristina Dunz[dpa]