Künstlerische Reflexionen um 1990: Als die Zeit Kopf stand
Alles war bereit, dann kam der Lockdown: Seitdem wartet die Ausstellung "Alles ist möglich" im Potsdamer Museumshaus Im Güldenen Arm auf ihren Auftritt. Zum Glück kann man sie wenigstens digital besuchen.
Potsdam - Für Frank W. Weber war die DDR im September 1989 zu Ende. Als nach der Öffnung der ungarischen Grenze tausende Menschen die DDR verlassen, als auch der Bekanntenkreis immer mehr ausdünnt, als die Welt zu wanken beginnt, da greift Frank W. Weber zum Pinsel. Nimmt sich als Unterlage, was er eben findet: eine Pappe. Malt einen großen fleischigen Leib mit kahlem Schädel, der durch schmale Augen über die Schulter zurück sieht. Schreibt darüber, in Versalien: Fin. Ende.
Fragen an die Zukunft, an ihr Potenzial, ihre Unsicherheiten
Das Gemälde hängt im hintersten Ausstellungsraum des Museumshauses Im Güldenen Arm. Nur hat es dort noch niemand gesehen. Weber, der sich als Künstler Aratora nennt, hat hier eine Ausstellung kuratiert: "Alles ist möglich. Künstlerische Reflexionen um 1990". Der Titel bezieht sich auf die Zeit der Offenheit nach dem Ende des Kalten Krieges, auf die Hoffnung, die im Raum stand. Die Fragen, die man an die Zukunft hatte. Ihr Potenzial, ihre Unsicherheiten.
In Zeiten der Corona-Pandemie liest sich der Titel noch einmal anders. Galerist Frank W. Weber und Carla Villwock, Geschäftsführerin des Museumshauses, hatten bis zum letzten Moment auf die Möglichkeit, doch noch am 8. November eröffnen zu können. So kommt es, dass hier seit Wochen eine fertige Schau hängt, hinter verschlossenen Türen. Inzwischen rechnet niemand mehr damit, dass sich vor dem 10. Januar die Türen wieder öffnen. Damit nicht alles umsonst war, kann wer will die Räume immerhin digital durchschreiten. Auch einen Katalog gibt es.
In Ost und West gab es Neues zu verarbeiten
Die Ausstellung will ausdrücklich nicht nur ostdeutsche Kunst zeigen, nicht nach Herkunft sortieren. Die These, die dahinter steht: Für Künstler auf beiden Seiten der ehemaligen Mauer gab es 1990 Neues zu verarbeiten. Und noch etwas zeigt dieses Nebeneinander, das nicht in Ost oder West unterscheidet: Wer meint, über die Kunst die Herkunft ableiten zu können, verrennt sich schnell. Nicht aller Realismus ist gleich Ost, nicht alle Konzeptkunst gleich West.
Zu sehen sind neben Aratoras Arbeiten jene von den Potsdamern Barbara Raetsch, Karl Raetsch, Wolfgang Liebert und dem gebürtigen Hagener Axel Gundrum sowie von den Westberlinern Matthias Koeppel und Ernst Leonhardt. Frank W. Weber leitet die Stadtgalerie Kunst-Geschoss in Werder an der Havel, daher kennt er die anderen Künstler.
Gar nicht blühende Landschaften von Barbara Raetsch
Der erste Auftritt gehört Barbara Raetsch. Die stadtbekannte Chronistin der Zeit, als Potsdams Mitte noch abbruchreif war, zeigt im ersten Raum ein rotflammendes Haus aus dem Holländischen Viertel von 1988, eine düstere Häuserfassade in der Heinrich-Rau-Allee. Aber auch: eine kahle Dorfstraße in Langerwisch aus dem Jahr 1993. "So viel zu den blühenden Landschaften", sagt Kurator Weber.
Auch von Karl Raetsch (1930-2004) ist eine Fassade hier im ersten Raum zu sehen: Garagen im Schatten bleierner Neubauten. In den Fenstern schimmern schwache Farben, hinter der Garagentür ein Auto, sonst: kein Leben. Gemalt wurde das 1990. Da war das Tor zum Westen schon auf.
Bei Karl Raetsch hat die Zukunft schmale Schultern
Trotzdem zeigt "Garagen" alles andere als Aufbruchstimmung. Anders Karl Raetschs "Punker mit jungem Löwen" von 1993: kein Rebell, sondern eine magere kindliche Gestalt in zu weiten Hosen mit Irokesenschnitt. Ein freundliches Gesicht, der Löwe daneben hat keine Zähne. Oder zeigt sie nur nicht? Diese Jugend hat schmale Schultern.
Wolfgang Liebert, dessen Ansichten des Holländischen Viertels vor Kurzem im Jan Bouman Haus zu sehen waren, zeigt sich hier von anderer Seite: drei Stillleben des neuen Überangebots aus den frühen 1990er Jahren, abgerundet durch Ergänzungen aus späterer Zeit.
Die Zeit steht Kopf
Es braucht nicht viel, um die Symbolik von Lieberts "Stilleben mit gerupftem Huhn", entstanden zwischen 1992 und 2020, zu entschlüsseln: ein gerupftes Huhn, daneben ein Ei, eine zerfledderte Feder, ein Wecker, dem die Ziffern durcheinander geraten sind. Die Zeit steht Kopf. Etwas ist definitiv gestorben; etwas Neues noch nicht geboren.
Wie man von Westen kommend auf die Spuren des untergegangen Landes DDR schauen konnte, zeigt Ernst Leonhardt. 1990 malt er den Grenzübergang Oebisfelde: menschenleer, schwarz-rot-goldene Farben, ein Schild verordnet Überholverbot, ein anderes Mäßigung: Tempo 30.
Staunende Blicke auf unbekannte Gelände im Osten
In "Der neue Blick" bestaunt Leonhardt 1992 ausgelassene Nacktbadende an der Ostsee. Ein Diptychon weitet den Blick über saftiges Grün hinweg in die eisgraue, karge Landschaft eines ehemaligen Tagebaus: Auch das ein Erbe der DDR.
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Noch staunender die Perspektive von Matthias Koeppel, geboren 1937 in Hamburg, auf das neue Deutschland: In der Fotoserie "Künstlerische Eroberung Berlins" von 1995 sieht man ihn neben Baugruben, unter Kränen, in der Brache vor dem Palast der Republik stehen und ausdruckslos in die Kamera gucken. Ein Entdecker neuen Geländes, ein Tourist des Umbruchs.
Matthias Koeppel stellt gestern, heute, morgen nebeneinander
Die große, im Stil realistische Bestandsaufnahme "Die Jahrhundertfeiern - Kurfürstendamm-Triptychon" von 1978/88 stellt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander: 1937, im Geburtsjahr des Malers, wehen Hakenkreuzfahnen zur 700-Jahrfeier Berlins über dem Café Kranzler. 1987 wird auf dem Ku'damm Party gemacht. 2037 ist der Platz um die Gedächtniskirche in atomar verseuchten Trümmern, Menschen ducken sich unter einem Rettungszelt zusammen.
Im Güldenen Arm hängt Koeppels Gemälde gegenüber der ebenfalls großformatigen Arbeit "Die Verheißung" von Axel Gundrum, entstanden 1989. Ein vor Verzückung taumelnder Mann auf Rollschuhen, Sonnenbrille im Gesicht, den Mund vor Begeisterung geöffnet, reckt sich in eine Fernsehkamera.
Ein römischer Triumphzug von 1990
Das düstere, fast tübkehafte Pendant folgt ein Jahr später und ist auch hier zu sehen: Gundrums "Der Wagen" von 1990. Ein Triumphzug in römischer Anmutung, ein Siegeszug. Oben auf dem Wagen Gestalten in Narrenkostümen mit Geldschein im Hut. Unten im Schatten teuflische Fratzen. Auf einem Helm steht: "Ich bin stolz". Deutscher zu sein? Auf einem Stab, fast nicht mehr erkennbar, ein aufgespießter Intellektuellenkopf.
Drastisch ist das, und vielleicht wenig subtil. Aber diese Warnung vor der Rückkehr in nationalistische, vernunftverlassene Gefilde von 1990 wirkt angesichts heutiger Querdenker-Allianzen ähnlich prophetisch wie das Bild, mit Frank W. Weber im September 1989 das Ende der DDR feststellte. Je länger man durch diese Ausstellung streift, desto bedrohlicher wirkt ihr Titel. Denn, ja: Alles bleibt möglich.
Der Katalog zu Ausstellung ist im Museumshaus Im Güldenen Arm, Hermann-Elflein-Straße 3, erhältlich. Er kostet 10 Euro.