Über das Hotel Mercure in Potsdam: Hinter den Kulissen
Das ehemalige DDR-Interhotel ist Potsdams umstrittener Bau. Doch die Arbeit im Hotel geht weiter. Unsere Autorin hat sich dort umgeschaut und mit den Mitarbeitern gesprochen.
Potsdam - Einmal am Tag mindestens fünf Minuten nimmt sie sich für die Aussicht, sagt Martina Viole. Dann sucht sie sich ein ruhiges Plätzchen irgendwo am Fenster, noch lieber auf einem kleinen Balkon Richtung Süd-West. Und möglichst weit oben. „Es ist ein toller Blick und immer schön, egal ob unten alles grün ist, oder Schnee liegt.“ Die 56-Jährige gehört zu den dienstältesten Kollegen im Potsdamer Hotel Mercure. Martina Viole ist Hausdame, die Frau mit dem dicken Schlüsselbund. Verantwortlich für alles Organisatorische, Reinigung, Ordnung, Empfang, Einkauf, Buchung, Gästebetreuung. Der erste September 1976 war ihr erster Arbeitstag. Er ist ihr gut in Erinnerung geblieben. Furchtbar aufgeregt sei sie gewesen. „Die ersten Tage sollte ich nur zuschauen und dem Oberkellner hinterherrennen. Nach dem dritten Tag taten mir die Füße weh. Und ich dachte, das schaffst du nie.“ Natürlich schaffte sie es, durfte nach 14 Tagen mit zittriger Hand das erste Mal einen Teller vor einem Gast ausheben, wie es im Gastro-Jargon heißt, und schloss ihre Lehre zur Restaurantfachfrau vorzeitig ab. Im Hotel kennt sie heute jeden Raum, blind würde sie sich hier zurechtfinden. Längst kümmert sie sich selbst um Auszubildende. Wenn aus jungen, oftmals unsicheren Schulabgängern nach drei Jahren selbstbewusste Mitarbeiter geworden sind, dann freut sie das.
Von den 60 Mitarbeitern – Fremdfirmen wie der Reinigungsbetrieb nicht mitgerechnet – sind derzeit 15 Azubis. Es könnten mehr sein, vor allem Kochlehrlinge werden immer gesucht. Aber nicht selten hört Hotelchef Marko Wesolowski im Bewerbungsgespräch den Satz: „Kann ich denn meine Ausbildung bei Ihnen auch abschließen? Das Hotel soll doch abgerissen werden.“ Das ärgert ihn. „Die Leute lesen in der Zeitung irgendwas von Abriss und hinterfragen das nicht. Dabei ist überhaupt noch nichts beschlossen, was dazu führen könnte.“ Er selbst sei da ganz entspannt. „Dass neulich sogar ,Bild’-Herausgeber Kai Dieckmann hier übernachtete, weil er das Hotel mal von innen sehen wollte und wir ihn in seiner Grundhaltung zum Hotel erschüttern konnten, das war unser Ritterschlag.“
Wesolowski und sein Team sind in bester Durchhalte-Laune
Das Management geht mit der sehr emotional geführten öffentlichen Debatte über die Zukunft des Hotels progressiv um. Die Stadt will die Immobilie am liebsten abreißen. Trotzdem wird hier derzeit kräftig investiert. Im vergangenen halben Jahr wurden etwa Lobby und Barbereich neu möbliert, alle 210 Zimmer bekamen neue Matratzen. „430 Matratzen mit den Fahrstühlen hoch, die alten runter – das ist ein riesiger Aufwand. Da fassen alle mit an“, sagt der Hotelchef. Noch in diesem Jahr bekommen alle Zimmer neue Sitzmöbel und Fernseher. Wesolowski und sein Team sind in bester Durchhalte-Laune.
Für das Hotel spricht die Lage, zentraler geht es nicht. Der Hauptbahnhof ist um die Ecke, Tram und Bus vor der Haustür, das Hotel hat sogar einen eigenen Schiffsanleger. Das spiegelt sich in der Auslastung wider. Etwa 90 Prozent im Sommer, 50 Prozent im Winter. Wesolowski kann sich angesichts solcher Zahlen ein siegessicheres Lächeln nicht verkneifen. Für das Hotel spricht auch das Preis-Leistungs-Verhältnis, für ein Vier-Sterne-Haus ist es vergleichsweise günstig. Und seine Größe: 210 Zimmer und ein gutes Dutzend Tagungsräume – mit Terrassenzugang oder in den obersten Etagen mit bestem Blick – machen das Haus attraktiv für Firmen und größere Gesellschaften. Punktabzug gibt es für die schlechte Parksituation und weil es keinen Wellnessbereich gibt. Auch der Bau an sich ist kein gestalterisches Highlight. Trotzdem gibt es viele, die gern wiederkommen.
Stars und Künstler aus dem Westen kamen in das Interhotel
Als das Haus 1969 eröffnete, waren vor allem gut zahlende Gäste aus dem westlichen Ausland zu Besuch. Heute erinnert man sich vor allem an die Stars und Künstler. Schauspieler wie Rolf Hoppe und Zsa Zsa Gabor übernachteten hier. Martina Viole trug wie alle Frauen im Haus Dienstkleidung aus Präsent 20, jener Chemiefaser, die die DDR zum 20. Republikgeburtstag ihrem Land schenkte. Die Uniform hat sie noch. Und erinnert sich, dass die Frauen Haarspray auf die Oberschenkel machten, damit der Rock sich nicht statisch auflud und am Bein klebte.
Der heutige Küchenchef Michael Häberer kam 1977 als gelernter Koch ins damalige Interhotel. „Ich wollte einfach ans erste Haus am Platz“, sagt er. Hier gab es alles, was in anderen Hotels nie auf den Tisch kam, man leistete sich eine umfangreiche Speisekarte, jenseits von Schnitzel, Salzkartoffeln und Mischgemüse. Exotisches Obst, Fische, Kaviar – kein Problem. Für 24,50 Ostmarkt – davon bestritt manche Familie ihren Wochenendeinkauf – gab es Chateaubriand Filetsteak mit Kroketten, am Platz tranchiert. „Wer hier abstieg, der konnte das bezahlen“, so Häberer.
Der Küchenchef hätte gerne einen Hühnerhof am Hotel
Dann kam die Wende. Für den ersten Nachwende-Oberbürgermeister, Horst Gramlich, schnitt Häberer einen Seeigel auf, damit der OB den Rogen auslöffeln konnte. Und platzierte einmal eine lebende Meerjungfrau auf einem Fischbüfett. Berührungsängste hatte er nicht, im Gegenteil. Er bildete sich in Luxemburg und Paris weiter, heute favorisiert er Regionales mit einem Hauch Französisch. Die Kollegen scherzen bisweilen: Der Küchenchef hätte am liebsten einen eigenen Hühnerhof am Hotel.
Seine Chancen stehen vielleicht gar nicht so schlecht. Wesolowski, 36 Jahre alt, seit 2009 am Haus und seit 2013 Hotelchef, hat schon so manche Idee, die zunächst als verrück galt, umgesetzt. So stehen seit einem Jahr sogar Bienen auf dem Dach – in genau 59,8 Metern Höhe. „Dort oben herrscht ein Amplitudenausschlag von 40 Zentimetern“, sagt Wesolowski. Die Zahl hat er vom Geoforschungsinstitut. Das Mercure schwankt also tatsächlich ein wenig – das klingt witzig angesichts der verbissenen Diskussion um Abriss oder Erhalt des Gebäudes. Wesolowski würde es freuen, wenn sich auch Mitglieder der Stadtverwaltung oder Stadtverordnete das Haus von innen anschauen würden – vor allem diejenigen, die das Hotel am liebsten plattmachen würden. Denn die aktuelle schlechte Presse – Wesolowski nennt es „bewusste Lancierung eines möglichen Abrisses durch die Stadt Potsdam“ – schade dem Haus: „Allein in 2014 hatten wir Umsatzeinbußen in sechsstelliger Höhe.“ Vor allem Tagungsgäste, die langfristig planen, hätten oft verunsichert storniert. Immer wieder müssen Servicemitarbeiter Anrufer beruhigen, dass das Hotel noch steht, dass sie buchen können.
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Vom Prestigebau zum "Missstand". Eine Chronologie zum Hotel Mercure >>
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