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Es läuft immer noch. Jürgen Müller (2.v.l.) gehörte im vergangenen Jahr zur ersten AOK-Heldenstaffel, die beim Teltowkanal-Halbmarathon Premiere hatte. Und der 59-Jährige ist dabei geblieben, hat es von der Heldenstaffel im Laufe des Jahres bis ins Ziel des Berlin-Marathons vor zwei Wochen geschafft.
© Peter Könnicke

Brandenburg läuft: AOK-Heldenstaffel: „Es ging für mich praktisch bei null wieder los“

Durch die AOK-Heldenstaffel beim Teltowkanal-Halbmarathon vor einem Jahr wurde der läuferische Ehrgeiz des trockenen Alkoholikers Jürgen Müller wieder geweckt, sodass er inzwischen sogar die Königsdistanz erneut meisterte. Derweil läuft die Bewerbungsphase für die diesjährige Teltower AOK-Heldenstaffel.

Herr Müller, vor fast einem Jahr sind Sie in der ersten AOK-Heldenstaffel beim Teltowkanal-Halbmarathon gelaufen. Ziel der Heldenstaffeln ist es ja, dass die Teilnehmer die Freude am Laufen entdecken und dies auch künftig tun. Wie gut hat das bei Ihnen geklappt?

Es hat prima geklappt! Die Heldenstaffel vor einem Jahr war ein absoluter Glücksfall für mich, zumal die Teilnahme an der Staffel eher zufällig zustande kam. Über längere Zeit beeindruckte mich damals schon das Treiben des Micha Klotzbier, Mitinitiator der Heldenstaffel. Ich suchte damals, nichts ahnend von dieser geplanten Staffel, den Kontakt zu ihm und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Meine Laufschuhe hingen vor einem Jahr bereits am berühmten Nagel und bei mir machte sich mehr und mehr Trägheit und Antriebslosigkeit breit. Sportliche Ziele? Fehlanzeige. Ich hatte mit über 90 Kilo ordentlich Übergewicht und war körperlich in keiner berauschenden Verfassung. Für den Staffeleinsatz musste ich im Vorfeld wirklich wieder das Laufen trainieren, um mich nicht zu blamieren. Schritt für Schritt und mit der Begeisterung für die Heldenstaffel kam bei mir die Freude am Laufen zurück und sie hält bis heute an. Mehr noch. Meine Lauferei hat heute eine ganz andere Qualität als noch vor Jahren. Damals war ich ein Eigenbrötler, kochte still vor mich hin meine eigene Suppe. Heute ist das Laufen wieder fest in meinem Alltag integriert. Ich habe mich der Lauffamilie von gotorun angeschlossen und teile jetzt die Leidenschaft mit Gleichgesinnten. Zu den Mitgliedern der damaligen Heldenstaffel besteht weiter reger Kontakt. Es sind echte Freundschaften entstanden.

Hat die Motivation, regelmäßig zu laufen, Ihnen auch bei Ihrer ganz persönlichen Herausforderung geholfen? Sie hatten vor Jahren Ihre Alkoholsucht besiegt.

Das ist richtig. Ich bin trockener Alkoholiker und lebe seit über elf Jahren abstinent. Als ich mich damals auf einen trockenen Weg machte, begann ich auch, intensiv zu laufen. Typisch für Süchtige wie mich ist der Reiz zu Extremen und so entschloss ich mich, einmal einen Marathon zu laufen. Dieses Ziel vor Augen zwang mich aber auch zu Demut, Bescheidenheit und Disziplin und half mir sehr, im schwierigen ersten Jahr trocken zu bleiben. Am 30. September 2007 war es dann so weit. Ich finishte meinen ersten Marathon genau an meinem ersten Trockengeburtstag. In den folgenden Jahren habe ich das Laufen beibehalten und bin auch weitere Marathons gelaufen. So auch im Jahr 2015. Aber ich war denkbar schlecht vorbereitet und so endete er auch fast in einer Katastrophe. Kurz nach Halbzeit bekam ich Schmerzen in der Brust und hatte Atemnot. Anstatt aufzugeben, schleppte ich mich bis ins Ziel. Das Ende vom Lied: ein klassischer Angina Pectoris, Herzkatheter und Stent. Mein ungesunder Lebenswandel in jüngeren Jahren forderte wohl endgültig seinen Tribut. Diese Diagnose trieb mir alle Schrecken in die Glieder und so verabschiedete ich mich nach und nach von der Lauferei. Das Thema Marathon war eigentlich durch.

Bei der Heldenstaffel vor einem Jahr sind Sie sieben Kilometer gelaufen. Jetzt haben Sie wieder einen Marathon geschafft. Wie war das möglich, was ist da passiert?

Es ist so viel passiert. Das Erlebnis, mit der Heldenstaffel zu laufen, war einfach großartig. Alle Teilnehmer bekamen ein großes Maß an Wertschätzung und Aufmerksamkeit für Geleistetes. Ich glaube, das hat uns alle sehr stolz gemacht, und mir wurde erstmals richtig bewusst, was mir das Laufen eigentlich bedeutet hat. Mir blieb nicht verborgen, dass meine Mitstreiter weiter große sportliche und persönliche Ziele verfolgten. Und ich? Ich machte erst mal einen Termin beim Kardiologen, um zu erfragen, ob für mich ambitioniertes Laufen überhaupt wieder möglich ist. Die Untersuchungen ergaben grünes Licht und so gab es für mich kein Halten mehr. Ich entschied mich, erst am Berliner Halbmarathon im April und dann am Marathon im September teilzunehmen. Für mich ging es im November vergangenen Jahres praktisch bei null wieder los. Ich bin heute noch erschrocken, wie schnell einmal erlangte Leistungsfähigkeit den Bach runtergehen kann. Ich war damals alles, nur kein Läufer mehr. Unter professioneller Anleitung gelang es mir, ganz behutsam wieder ins Laufen zu kommen. All die Jahre zuvor stoppelte ich mir, mehr schlecht als recht, irgendwie Trainingspläne zusammen, die nicht wirklich meinem Leistungsniveau entsprachen. Stabi-Training, Koordination, Lauf-Abc und gezieltes Krafttraining hatte ich gar nicht im Programm. Das abwechslungsreiche Training individuell oder Samstag mit der Mannschaft macht riesigen Spaß. Erfolge und Misserfolge werden geteilt und die Unterstützung untereinander sucht seinesgleichen. Das möchte ich nicht mehr missen.

Wie ging es Ihnen, als Sie in Berlin über die Ziellinie des Marathons liefen?

In diesem Jahr war es etwas ganz Besonderes, weil ich ein Comeback auf die Marathonstrecke für mich bereits ausgeschlossen hatte. Sicher, mein erster Zieleinlauf damals nach einem Jahr Abstinenz hat sich bei mir eingebrannt. Ich habe, genau wie beim ersten Mal, geheult vor Freude. Ein Jahr diszipliniertes Training hat sich auch dank der Unterstützung vieler richtig gelohnt. Mein Ziel war es, unter die fünf Stunden zu kommen, und es hat tatsächlich geklappt. Verrückt, ich war sogar etwas schneller als beim ersten vor zehn Jahren. Noch schöner war es allerdings, die Freude mit so vielen teilen zu können. Das Lob vom Trainer steht da ziemlich an erster Stelle. Ihn nicht enttäuscht zu haben, macht mich sehr glücklich.

Gab es Durststrecken, Rückschläge, Krisen innerhalb des vergangenen Jahres, bei deren Bewältigung Ihnen das Laufen helfen konnte?

Ja, die gab es. Es ist jetzt schon einige Monate her, als es einem mir sehr nahe stehenden Menschen gesundheitlich sehr schlecht ging. Ich musste um sein Leben bangen. Die Ohnmacht, nicht mal ansatzweise helfen zu können, machte mir über Wochen und Monate sehr zu schaffen. Das Laufen half mir ungemein, diese Situation zu ertragen und zu verarbeiten. Und es waren wirkliche Freunde da, die ich in diesem Jahr durch die Heldenstaffel kennengelernt habe, die mir ein offenes Ohr schenkten. Es hat sich alles zum Guten gewendet.

Wie geht es weiter? Was gibt es für Sie nach einem Marathon?

Den Marathon habe ich, dank der guten Vorbereitung, sehr gut überstanden. Mir geht es gut wie lange nicht und ich stecke wieder voller Tatendrang. Jetzt die Beine hochlegen, ich müsste mit einem Klammersack gepudert sein. Mit fast sechzig steht der Spaß am Laufen im Vordergrund, aber mit einem Auge schiele ich schon auf die gelaufenen Zeiten. Ich habe im Laufe des Jahres zwölf Kilo abgenommen, wiege aber noch immer etwas zu viel. Ich habe mein Potenzial bestimmt noch nicht ausgeschöpft. Im Oktober gibt es noch den Müggelsee-Halbmarathon, den ich als Saisonabschluss ins Auge gefasst habe. Seit Kurzem begleitet mich mein jüngster Sohn gelegentlich beim Training. Er hat mich beim Marathon ordentlich angefeuert und möchte beim Müggelseelauf seinen ersten Zehn-Kilometer-Wettkampf bestreiten. Vielleicht bleibt er bei der Stange. Für den Halbmarathon 2018 bin ich angemeldet und wenn das Losglück mit mir ist, dann auch wieder der Große im September. Vorsichtig liebäugle ich ja mit dem Jubilee Club, der zehn Teilnahmen beim Berlin-Marathon erfordert. Aber alles Schritt für Schritt. Es darf also alles so weitergehen.

/// Für neue Heldenstaffel bewerben ///
Auch in diesem Jahr wird es beim Teltowkanal-Halbmarathon am 5. November eine AOK-Heldenstaffel geben. Zu einer Staffel gehören drei Läufer, die jeweils 7,1 Kilometer laufen. Diesmal soll mit den Heldenstaffeln auf das Thema Parkinson aufmerksam gemacht werden. Betroffene und Angehörige können mitlaufen, aber auch alle anderen Interessenten, die in ihrem Leben oder Alltag eine Herausforderung meistern. Bewerbungen können bis 15. Oktober an info@gotorun.de mit dem Stichwort "Heldenstaffel" geschickt werden.

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