Gedenken an Holocaust-Opfer: "Die Jüdin ist flüchtig": Die Geschichte von Valerie Wolffenstein
Die Malerin Valerie Wolffenstein aus Berlin überlebte den Holocaust, weil sie sich jahrelang versteckte. Zwei Potsdam-Bilder von ihr wurden jetzt wiederentdeckt – ein Anlass, Vallys Geschichte zu erzählen.
Potsdam - Den Turm der Garnisonkirche, ohnehin nur in halber Höhe, wählt Valerie Wolffenstein als Hintergrund. Die Mitte des Bildes nimmt die Kanalbrücke ein mit verspielten Skulpturen auf dem Geländer und den Brückenköpfen. Die Gehölze und Bäume an den Seiten stehen im vollen Laub. Licht und Schatten sind gut herausgearbeitet und geben dem Bild eine Tiefe. Es muss ein sommerlicher, heller Tag gewesen sein, an dem das Bild entstand – und ein weiteres vom Alten Markt.
Auch hier wählt die Malerin eine ungewöhnliche Perspektive: Das wuchtige Rathaus rückt leicht zur Seite, der Fokus fällt stattdessen auf einen Marktstand und die dort kaufenden Menschen. Die Malerin ist eine junge Frau, Valerie Wolffenstein, „Vally“, geboren 1891 in Berlin. In den Kriegssommern 1915 und 1916 ist sie viel in Potsdam. Sie, ihre Eltern und Geschwister dürfen die Villa eines befreundeten Offiziers im Felde, um dessen Tochter sie sich kümmern, in den Sommermonaten nutzen.
In Potsdam malt sie, sommerliche Ansichten, auch aquarellierte Postkartenmotive, die sie verkaufen konnte. Aber sie erlebt auch, wie am Bahnhof Züge mit Schwerverletzten aus dem Krieg ankommen. „Hier unterrichtete ich u. a. in einem Genesungsheim verwundete Soldaten in Stenographie“, schreibt sie in ihrem Buch „Erinnerungen von Valerie Wolffenstein aus den Jahren 1891 – 1945“. Dass sie es schreiben konnte, ist ein großes Glück. Sie und ihre Schwester Andrea, geboren in der Familie des Architekten Richard Wolffenstein, der jüdischer Abstammung war, überlebten die Verfolgung durch das Naziregime, weil sie sich 1943 entschieden unterzutauchen, und weil sie immer wieder Freunde und Helfer fanden, die sie versteckten und unterstützten.
Gerechte unter den Völkern
Die berührende und spannende Biografie kommt jetzt wie ein kompliziertes Puzzle langsam zusammen und hat auch mit den Potsdam-Bildern zu tun. Der Potsdamer Medienunternehmer und Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann, der historische Potsdam-Werke sammelt, bekommt eines Tages diese beiden Lithografien von einem Kunsthändler in Bayern angeboten. Diekmann, der Vorsitzender des Freundeskreises Yad Vashem in Deutschland ist, erinnert sich, dass der Name Wolffenstein bei der Yad-Vashem-Ehrung von Gertrud und Elisabeth Schiemann als Gerechte unter den Völkern gefallen war. Diese beiden Frauen versteckten in Berlin verfolgte Juden, auch Vally und Andrea Wolffenstein. Es gibt ein Foto (siehe oben), das die vier Frauen 1965 zeigt, sie lachen in die Kamera. Sie haben überlebt.
Auswanderungshelferin für Emigranten
Vally und Andrea wachsen in einer bürgerlichen Familie auf, in der Künstler aus- und eingehen. Vally bekommt mit elf Jahren erstmals Zeichenunterricht. Später wird Otto Günther-Naumburg, bekannter Architektur- und Landschaftsmaler, ihr Lehrer, dann George Mosson, ein Franzose, der zu den Gründern der Berliner Secession gehörte. Sie unterrichtet bald selbst, Zeichnen und Stenografie, unter anderem in einem Arbeiterinnenklub. Der Vater stirbt 1919, die Schwestern müssen nun vor allem Geld verdienen. 1924 findet Vally eine Stelle beim Reichskunstwart im Innenministerium, dann arbeitet sie als Sekretärin für den Kunsthistoriker Paul Zucker, später auch beim Film.
Mitte der 1930er-Jahre wird Arbeiten aufgrund ihrer Klassifizierung als Jüdin immer schwieriger für sie, sie wird arbeitslos und engagiert sich schließlich als Auswanderungshelferin für Emigranten. Die Schwestern selbst schieben ihre Auswanderung immer auf – bis es zu spät ist und sie nicht mehr raus können. Nach zwei Jahren schwerer Zwangsarbeit entschließen sie sich kurz vor der drohenden Deportation, in den Untergrund zu gehen. Aus dieser Zeit gibt es Verwaltungsakten. Die Staatspolizeistelle Berlin schreibt im Mai 1944 an den Herrn Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg: „Die Jüdin Valerie Sara Wolfenstein, geboren am 30. 11. 1891 in Berlin, zuletzt in Berlin NW. 40, zuletzt Flensburger Straße 6, wohnhaft gewesen, ist flüchtig. Die Einziehung des Vermögens zu Gunsten des Reiches ist veranlasst worden.“
Ihr Buch ist ein beeindruckendes Zeitdokument
Valerie schreibt in ihrem Buch vor allem, was sie in dem Land, das doch ihr Heimatland ist, erlebt. Welchen kleinen und großen Demütigungen und Schikanen die jüdischen Menschen ausgesetzt sind, wer noch verschwinden kann, wer abgeholt wird. Welcher Gefahr sich die Menschen, die sie verstecken, sich aussetzen. Wie sie immer wieder Glück haben. Auf gute Menschen treffen. Sie berichtet auch über Freunde aus dem Widerstand wie Libertas Schulze-Boysen und deren Mann Harro, beide wurden 1942 hingerichtet. Libertas Abschiedsbrief wird zitiert. Insofern geht das Buch weit über die persönliche Biografie hinaus und wird zu einem beeindruckenden Zeitdokument.
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Die Aufzeichnungen von Vally enden 1945. Nach dem Krieg lebte sie mit ihrer Schwester in München, 1993 verstarb sie. Aber hatte sie Nachkommen? Gibt es einen Nachlass? Das interessierte auch den Kunsthändler Maximilian Baron Koskull. „Die Bilder waren schon etwas Besonderes und das Schicksal der Malerin auch“, sagt er. Er wollte einfach mehr über diese Frau wissen, und was er fand, schickte er nach Potsdam. Er schreibt an Diekmann: „Im Juli 1990 adoptierte sie eine damals 57-jährige Frau. Diese hatte im Dritten Reich beide Elternteile verloren und die Schwestern Andrea und Valerie Wolffenstein kümmerten sich fortan um sie.“
Ob sie jemals wieder malte, kann Koskull nicht sagen. Dafür würde sprechen, dass nur wenige Bilder von Valerie Wolffenstein im Umlauf oder in Museen zu finden sind – was aber auch nicht ganz untypisch ist, weil die Nachlässe von Künstlerinnen dieser Zeit oft klein sind oder gänzlich fehlen. Frauen hatten es schwer, bekannt zu werden. Schon ihre Ausbildung fand meistens an kleinen Privatschulen statt, denn sie waren nicht überall zum Kunststudium zugelassen. Manche standen später im Schatten ihrer Künstler-Ehemänner oder wurden, wie Valerie Wolffenstein, von den Nazis verfolgt.
Zwei Postkarten für das Museum
Auch im Potsdam Museum findet sich nichts von ihr. Markus Wicke, Vorsitzender des Fördervereins, sagt: „Falls weitere Potsdam-Bilder von ihr auftauchen, würden wir die gerne erwerben.“ Malerinnen, sofern sie keine Ikonen ihrer Epoche sind, sind auch im Potsdam Museum eine Seltenheit. Das würde man gerne ändern. Dass zwei der wenigen erhaltenen Wolffenstein-Bilder jetzt bei Kai Diekmann im Haus hängen und nicht bei ihnen, sei dennoch sehr schön. „Da bleiben sie wenigstens in Potsdam“, sagt Wicke anerkennend. Diekmann, selbst Mitglied im Förderverein, tröstet: „Ich habe zwei kolorierte Postkarten von Vally, die Garnisonkirche und einen Blick in den Park Sanssouci, die soll das Museum bekommen.“
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