Potsdamer Lokalgeschichte: Die Detektive vom Brauhausberg
Potsdams Naturtheater von 1911 lag in der heutigen Straße Am Brauhausberg? Helmut Matz und Wolfgang Mörtl kommen dank akribischer Recherche zu einem anderen Ergebnis.
Potsdam - Die Geschichte der Detektivarbeit von Helmut Matz am Brauhausberg beginnt mit einer historischen Ansichtskarte. Der Caputher Heimatforscher hat das Foto im Internet gefunden, es wurde vermutlich 1914 aufgenommen und zeigt das Ensemble des Potsdamer Naturtheaters. Unter Eichen haben sich 34 Frauen, Männer und Kinder in Kostümen versammelt, sie wollen das zweistündige Stück „Alt Potsdam oder Die erste Eisenbahn oder Dem Vergnügen der Einwohner” geben.
Naturtheater in einer Senke mitten im Wald
Dass es das Naturtheater mitten im Wald von 1911 bis 1915, nach anderen Quellen vielleicht sogar bis 1918 gab, ist bekannt. Experten wie der renommierte Berliner Theaterwissenschaftler Wolfgang Jansen, der über die Theatergeschichte der Mark Brandenburg geforscht hat, haben eingehend untersucht, was oberhalb der ehemaligen Königlich-Preußischen Kriegsschule, dem zwischenzeitlichen Sitz des Landtags, in jenen Jahren von Mitte Mai bis Anfang August geschah: in einer Senke des 88 Meter hohen Bergs inszenierte der zeitweilig in Potsdam lebende Schauspieler und Regisseur Axel Delmar selbstverfasste, das Soldatentum glorifizierende und überaus patriotische, heimattrunkene Stücke wie „Herr der Erde”, „Der Eiserne Heiland” und „Marschall Vorwärts”.
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Die Aufführungen waren ein Kassenmagnet
1910 hatte Potsdam 62.243 Einwohner, das kulturelle Interesse der Märker war offensichtlich groß. Gespielt wurde täglich von 17 bis 19 Uhr, 1200 Plätze soll es am Brauhausberg gegeben haben. 40 Berufsschauspieler und bis zu 100 Statisten traten auf, die Aufführungen waren ein Kassenmagnet. Jahr für Jahr lösten rund 75.000 Zuschauer Eintrittskarten für die Bühne unter Bäumen, an Wochenenden gab es zwei Vorstellungen. Der Potsdamer Geschichtsverein sprach von der „bedeutendsten Naturbühne in der Mark Brandenburg”.
Es war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, auch die Zeit des technischen Fortschritts. 1907 war die Potsdamer Straßenbahn elektrifiziert, 1911 in der Pirschheide der große Luftschiffhafen ausgewiesen worden. 1914 dann die ersten Kriegsluftschiffe made an der Havel, im gleichen Jahr unterschrieb Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais die Kriegserklärung gegen Frankreich, England und Russland.
Das Naturtheater half mit, die Bereitschaft zum Krieg zu befördern
Patriotismus blühte auf, und das Potsdamer Naturtheater half kräftig mit, des Volkes Bereitschaft zum Krieg zu befördern. So kämpften in Delmars Stück über die erste Eisenbahn die Frauen zunächst gegen Schienen, Loks und Waggons, änderten ihre Meinung aber flugs, als sie erfuhren, dass man mit der Bahn schnell Kriegsschauplätze erreichen könne. Überall im Kaiserreich sprossen in der Theaterlandschaft „Deutsche Heimatspiele”, die sich als Gegenpol zum kommerziellen Theater verstanden.
Jahrzehntelang galt es unter Experten als ausgemacht, dass die Bühne an der Westflanke des Bergs dort gestanden haben muss, wo in den 20er Jahren die Straße Brauhausberg, die heutige Umgehungsstraße, gebaut worden war. Und, klar: Wenn es Überbleibsel aus der Zeit der Aufführungen gegeben haben sollte, waren sie dabei untergepflügt worden. „Das ist ja oft so”, sagt Helmut Matz, „einer schreibt es, und alle anderen schreiben das ab.”
Schattenwurf auf historischem Foto machte die Heimatforscher aufmerksam
Doch die Abschreiber konnten nicht ahnen, dass Matz ihnen auf die Schliche kommen würde. Er wollte nicht glauben, dass das Theater an der Stelle existierte, an dem 1914 das Foto mit den kostümierten Schauspielern aufgenommen worden war. „Auf dem Bild werfen die Darsteller Schatten nach links – das Sonnenlicht musste also von Westen auf die Bühne geschienen haben.” Dieser Einfallswinkel auf die Bühne aber war an dem bisher angenommenen Standort des Theaters nicht möglich. „Das kann so nicht gewesen sein”, sagt er.
Der 68-jährige Matz, zu DDR-Zeiten studierter Bauingenieur und nach der Wende drei Jahrzehnte Haustechniker bei der Hoffbauer-Stiftung in Hermannswerder, wollte nun den tatsächlichen Bühnenort ermitteln. Er tat sich ein zweites Mal mit seinem Schwager, dem drei Jahre älteren promovierten Mathematiker Wolfgang Mörtl, zusammen. Den beiden Männern war es im Januar wie berichtet gelungen, mit der Hilfe von Fachleuten das mysteriöse Rätsel um einen 120 Meter breiten und 13 Meter tiefen Krater in der Döbritzer Heide nahe Fahrland zu lösen. Kaum jemand wusste, dass russische Soldaten dort zu DDR-Zeiten das Erdreich mit Raupen gleichmäßig hochgeschoben und auf der Sohle Sprengversuche geübt hatten.
Vor Ort finden Matz und Mörtl Reste eines Ziegels
Auch in ihrem neuesten Fall sind Matz und Mörtl erfolgreich. Von der Templiner Straße aus kommend gehen sie geradeaus über die Straße Brauhausberg Richtung Hügel hinauf, dahinter tauchen bald Gebäude des Geoforschungszentrum auf. Zur Rechten, umgeben von neun Eichen, erkennen sie die Fläche, auf der das Theater residiert haben könnte. Sie nehmen zur Identifizierung des Geländes die alten Aufnahmen zu Hilfe - und alles fügt sich zusammen: Die Mulde mit dem Hang, an dem die Sitze der Zuschauer gestanden haben müssen und, ein wichtiges Indiz, der Einfall des Sonnenlichts passt zu dem Foto. Ihre Annahme wird von einer älteren Potsdamer Anwohnerin bestätigt, deren Vater sich, wie sie berichtet, sicher war: „Ja, da lag das Theater.”
Die Eichen dort sind gut 100 Jahre alt – gewachsen also, als das Naturtheater wieder in die Natur übergegangen war. Weil die beiden Heimatforscher detektivisch arbeiten, entgeht ihnen kaum etwas. So entdeckt Helmut Matz plötzlich das Bruchstück eines roten Dachziegelsteins, das er den stets massiven Kulissenbauten zuordnet. 333 Gramm schwer, 11 Zentimeter lang und 9 Zentimeter breit. Als Bauingenieur weiß er sofort: „Ein Stein der Ziegelform namens Biberschwanz, der wahrscheinlich zu einem Gebäude für die Requisiten gehörte.” Matz ist sich nun sicher: „Genau an dieser Stelle stand das Naturtheater.”
Es ist offenbar das einzige Überbleibsel. Mit dem Theaterexperten Wolfgang Jansen haben sich die beiden Rechercheure während ihrer Arbeit mehrfach ausgetauscht. Seine Reaktion auf deren Ermittlungsarbeit: Es spreche „alles dafür, dass das Naturtheater an der Stelle lag, die Sie vorschlagen. Glückwunsch!”