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Update

Fünfjährige aus Eberswalde: Staatsanwaltschaft ermittelt wegen verwahrlostem Mädchen

In Eberswalde soll ein kleines Mädchen zwei Jahre lang eingesperrt gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Warum informierte das Jugendamt die Behörden nicht?

Potsdam - Und wieder stellen sich diese Fragen: Wie kann es sein, dass ein Kind einfach von der Bildfläche verschwindet, Nachbarn, Bekannte, Ämter nicht bemerkt haben wollen, dass ein kleines Mädchen über Jahre nicht die Wohnung verlässt?

Ein Fall aus Eberswalde (Barnim), über den die Märkische Oderzeitung (MOZ) am Wochenende berichtet hatte, schockiert Brandenburg: In der Weihnachtszeit soll eine extrem verwahrloste, körperlich und geistig zurückgebliebene Fünfjährige in das Immanuel-Klinikum Bernau eingeliefert worden sein. Mindestens zwei Jahre soll das Kind auf sich allein gestellt gewesen sein, auch kein Tageslicht gesehen haben. Ein „Kaspar Hauser“-Fall mitten in Brandenburg? 

Die Staatsanwaltschaft ermitteln wegen des Vorwurfs der Misshandlung von Schutzbefohlenen

Aufgrund des Zeitungsberichts ermittelt nun die Staatsanwaltschaft. „Wir haben aufgrund der Presseberichterstattung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet“, sagte Staatsanwalt Ingo Kechichian am Montag und bestätigte einen Bericht der „Bild“-Zeitung. Es werde wegen des Vorwurfs der Misshandlung von Schutzbefohlenen gegen Unbekannt ermittelt. Die Polizei leitete nach eigenen Angaben von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren wegen der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht ein. Zum Schutz des Kindes und mit Hinweis auf die Ermittlungen gab sie zunächst keine weiteren Auskünfte.

Keine Meldepflicht für Jugendämter 

Die Einweisung des Mädchens in die Eberswalder Klinik sei unter Mitwirkung des Jugendamtes erfolgt, sagte die Sozialdezernentin des Kreises Barnim, Yvonne Dankert. Das Brandenburger Jugendministerium forderte den Kreis zu einer Stellungnahme auf. Das Ministerium hat – als oberste Landesjugendbehörde des Landes – die Rechtsaufsicht über die Jugendämter der Landkreise und kreisfreien Städte und prüft regelmäßig, ob die Jugendämter ihren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen. Nur wenn sich herausstellen sollte, dass das Jugendamt seinen Pflichten nicht ausreichend nachgekommen ist, werde zu entscheiden sein, ob ein rechtsaufsichtliches Verfahren durch das Ministerium eingeleitet werden muss, teilte das Ministerium mit. „Höchste Priorität genießt in jedem Fall die Sicherung und Wahrung des Kindeswohls“, heißt es in einer Mitteilung des Ministeriums.  Daher werde in jedem Fall versucht, so schnell wie möglich mit der gebotenen Sensibilität, aber auch mit der erforderlichen Stringenz den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Es gebe keine Pflicht  für die Jugendämter,  dem Ministerium besondere Vorkommnisse  zu melden. Zudem gebe es  keine allgemeine Rechtspflicht der Jugendämter, Strafanzeige zu erstatten. Allerdings empfehle das Jugendministerium den Jugendämtern, falls Anhaltspunkte für Straftaten vorliegen, die Strafverfolgungsbehörden zu informieren. So werde auch im Jugendministerium verfahren.  In Brandenburg wurden Ministeriumsangaben zufolge 1947 Kinder im Jahr 2018 in Obhut genommen – davon 85 Prozent wegen einer Gefährdung. 

Mädchen hat das Krankenhaus wieder verlassen 

Das Mädchen sei in die Obhut der Behörden gekommen und habe das Krankenhaus schon wieder verlassen können, sagte der Landrat des Kreises Barnim, Daniel Kurth (SPD), am Montagnachmittag bei einer Pressekonferenz. Er habe feststellen müssen, „dass das Kind nicht die Fürsorge und Pflege und Liebe seiner Eltern bekommen hat“, die es gebraucht hätte. Der Kreis sprach von Anzeichen von Unterernährung und Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten. Das Kind befinde sich seit dem 20. Dezember in sicherer Obhut. Die Familie war den Behörden schon länger bekannt. „Wir sind mit dem Jugendamt der Kreisverwaltung Barnim bereits seit Mitte 2017 bemüht, Hilfe in diese Familie zu bringen“, sagte der Landrat. Sozialdezernentin Yvonne Dankert ergänzte, es habe eine erste Meldung Mitte 2017 gegeben. Alle Hilfsversuche blieben laut Kreis zunächst erfolglos. Eine beim Amtsgericht erwirkte Familienhilfe habe ab November 2019 einen Einblick in die Familienstruktur ermöglicht. Eine Mitarbeiterin aus dem Kinderschutz habe dann eine Gefahrenmeldung abgegeben. Eine Strafanzeige wurde bisher nicht erstattet. Die beiden  Geschwister seien zeitgleich in Sicherheit gekommen. Bei ihnen gebe es keine Hinweise auf derartige Vernachlässigung wie bei dem Mädchen, sagte Sozialdezernentin Yvonne Dankert. 

Amt: Fall ist keine Besonderheit 

Der Landrat sagte, der Kreis sei bemüht, die Gesundheitssituation des Kindes sowie den Förder- und Hilfsbedarf aller drei Kinder auszuwerten. Von Amts wegen seien verschiedene Anzeigen erstattet worden. An machen Stellen sei .„zu nachsichtig gehandelt worden“. Die Dezernentin verteidigte das Vorgehen, Polizei und Staatsanwaltschaft nicht zu informieren. „Wir haben den Auftrag, Hilfen anzubieten“, unterstrich sie. „Wir haben als Grundsatz nie eine Anzeigepflicht.“ Kinder würden allerdings aus dem jeweiligen Haushalt genommen, wenn akute Gefahr ersichtlich sei. Der aktuelle Fall sei nicht alltäglich, aber auch keine Besonderheit. 

Erinnerungen an den Fall Jennifer

Er erinnert an den Fall Jennifer aus dem Dorf Lübbenow in der Uckermark, der 2009 bekannt geworden war. Eltern versteckten ihre Tochter, die bei der Entdeckung 13 Jahre alt war, jahrelang vor der Öffentlichkeit, schickten sie weder zum Arzt noch zur Schule – angeblich, weil ihnen die Behinderung des Mädchens unangenehm war. Besonders prekär an dem Fall: Dem Jugendamt war die Familie mit drei Kindern seit 2006 bekannt, Mitarbeiter besuchten sie wegen Problemen mit den beiden anderen Kindern – dass die behinderte Tochter verwahrloste, komplett abgeschottet wurde, bemerkte bei der Behörde jahrelang niemand. Ein Nachbar war es schließlich, der sich an die Behörden wandte. Ihm war aufgefallen , dass drei Kinder zu der Familie gehörten – aber immer nur zwei auf der Straße, im Bus oder auf dem Schulweg zu beobachten waren. 

Sanktionen für nachlässige Eltern nur schwer möglich

Die Eltern wurden im August 2010 wegen gemeinschaftlich begangener Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht zu Bewährungsstrafen von jeweils neun Monaten verurteilt. Jennifer wurde damals wie das nun entdeckte Mädchen in ein Eberswalder Krankenhaus eingeliefert, auch sie war stark verwahrlost. Wie sich herausstellte, hatte das behinderte Mädchen auch im Kleinkindalter nie einen Arzt gesehen.

Darauf wurden Forderungen laut, die U-Untersuchungen für Kinder zur Pflicht zu machen. Das ist rechtlich aber nicht so einfach umzusetzen, hieß es vom Land. Brandenburg hat vielmehr ein Einladungssystem eingerichtet: Eltern werden seit 2008 schriftlich an die Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt erinnert. Wird das Kind trotzdem keinem Arzt vorgestellt, wird ein Erinnerungsschreiben verschickt. Reagieren die Eltern immer noch nicht, werden die Daten des Kindes  an das zuständige Gesundheitsamt übermittelt, das „motivierende Maßnahmen“ einleiten kann. Sanktionen für nachlässige Eltern sind aber nicht möglich. Dennoch zeigt offenbar schon dieses Mahnsystem Wirkung: Im Jahr 2008 waren insgesamt 19.931 Kinder bei den sogenannten U-Untersuchungen, 2017 waren es schon 23.077. Vor allem bei Familien mit niedrigem Sozialstatus stieg der Anteil der Kinder, die nun regelmäßig vom Arzt untersucht werden. (mit dpa)

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