Nachruf auf Manfred Stolpe: Die Mark und sein Kern
Wie kein anderer Regierungschef verkörperte Manfred Stolpe nach der Wende das Wir-Gefühl eines ganzen Bundeslandes. Ein Nachruf.
Potsdam - Manfred Stolpe war Jurist, und er war doch zuvorderst ein Mann der Kirche. Und er war ein glaubender Mensch, einer, der sich in Gottes Hand sah. So sind denn auch die Sätze aus den Psalmen, die er zitierte, wenn man ihn nach den Regeln und Gewissheiten seines Lebens fragte, Spiegel der Demut und der Gottesgewissheit. Der eine lautet: „Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.“ Der andere aber geht so: „Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, eh ich dahinfahre und nicht mehr bin.“
Manfred Stolpe ist 83 Jahre alt geworden. Seit dem 21. Juli 2004 war ihm klar, dass der Krebs seinen Körper befallen hatte. Seit 15 Jahren kämpfte er mit der Gelassenheit des Menschen, der weiß, das das Leben endlich ist, gegen das Wachsen der Metastasen an. Im Bergmann-Klinikum in Potsdam wusste er sich in guten Händen. Manfred Stolpe schaute sein Gegenüber fest an, wenn er die Geschichte dieses Leidens erzählte, wie er überhaupt zu den Menschen gehört, die den Gesprächspartner fest im Blick haben, auch und gerade dann, wenn die Themen schwer, wenn sie zur Last werden können.
Sein Ziel war Aufklärung
Seine Frau Ingrid, die selber Ärztin ist, hatte ihm 2004 Anzeigen der Felix-Burda-Stiftung zu Vorsorgeuntersuchungen gegen Darmkrebs hingelegt. Felix, der Sohn von Christa Maar und Hubert Burda, war mit nur 33 Jahren an Darmkrebs gestorben. Wird dieser Krebs früh erkannt, sind die Heilungschancen sehr gut, deshalb gründeten Maar und Burda eine Stiftung, die diese Krankheit durch Aufklärung aus der Tabu-Zone herauszuholen sucht.
Heute gehen viel mehr, vor allem auch Männer, zu den Vorsorgeuntersuchungen, deren wichtigste eine – völlig schmerzlose – Darmspiegelung ist. Manfred Stolpe ließ sie im April 2004 im Berliner Bundeswehr-Krankenhaus durchführen. Zwei kleinere Polypen konnten die Ärzte direkt während der unter einer leichten Sedierung durchgeführten Untersuchung entfernen. Aber es gab einen dritten, den zu beseitigen eine Operation nötig machte.
Stolpe musste das Erbe der Lkw-Maut antreten
Die wollten die Ärzte sofort vornehmen, sie stuften die medizinische Lage als überaus ernst ein. Aber das passte Stolpe nicht in seine Terminplanung. Seit zwei Jahren war er Bundesverkehrsminister. Eine Aufgabe zu der er sich, nach dem Rückzug vom Amt des brandenburgischen Ministerpräsidenten im Jahr 2002, von Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte verpflichten lassen. Seine damalige Situation schilderte er in einem Buch, das er 2010 zusammen mit seiner ebenfalls an Krebs erkrankten Frau vorlegte – Titel: „Wir haben noch viel vor, Unser gemeinsamer Kampf gegen den Krebs“. Stolpe übernahm das Ministerium von dem glücklosen Kurt Bodewig, der die umstrittenen Verträge zur Lkw-Maut ausgehandelt hatte.
Ein Erbe, das Stolpe antreten musste. „Ich steckte mitten im Kampf um die berühmt-berüchtigte Lkw-Maut. Damals hatte ich nicht den Hauch einer Chance, mich kurzfristig aus dem Kabinett zurückzuziehen“, schilderte er seine Lage.
Aber auch der Krebs ließ ihm keine Chance mehr. Als er am 21. Juli 2004 den Polypen operativ entfernen lassen wollte, war daraus ein Karzinom geworden. Die folgenden Chemotherapien und Bestrahlungen schwächten ihn. Manfred Stolpe hatte eine robuste Physis, aber die Behandlungsfolgen setzten ihm zu. Im Büro sollte niemand wissen, wie schwer er krank war. Unter dem Einfluss der Medikamente und Strahlen löste sich die Haut von den Händen. Jeden Morgen schnitt seine Frau die Hautfetzen ab, dann steckte er seine Hände in dünne, weiße Baumwollhandschuhe.
Stolpes Methode war am Ende erfolgreich
Der Papierstaub störe ihn, vermutete seine Sekretärin. Dass der Minister viel notleidender als die vertrackte Maut war, wusste nur er. Am 1. Januar 2005 wurde die Lkw-Gebühr eingeführt. Stolpes geduldige, von der CDU als zu großzügig kritisierte Methode war am Ende erfolgreich.
Es war diese Art, ein Bundesministerium zu führen, immer einen Weg zu suchen, der direkten Konfrontation möglichst auszuweichen. Sich wie das Wasser zu verhalten, das mit der Zeit den kantigen Stein rund spült. Dabei nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren. Das war das Vorgehen, das auch schon für den Kirchenpolitiker Manfred Stolpe in der DDR charakterisierend war.
Er habe „Kirche im Sozialismus“ als „sozialistische Kirche“ falsch verstanden, warfen ihm seine Gegner nach der Wiedervereinigung vor. Was für eine Dummheit! Stolpe hatte nur begriffen – und dann in Politik umgesetzt – dass harte Konfrontation zur SED die evangelische Kirche in den Untergrund treiben und am Ende wirkungslos machen würde. Den Staat kennen, den Glauben leben. Nach dieser Devise lebte und handelte er.
Geboren wird er 1936 in Stettin. Er studiert Rechtswissenschaften, bei der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg macht er ab 1959 ein Referendariat. 1964 wird er im Hauptamt, der Verwaltungszentrale der Kirche, Konsistorialrat, und schließlich im Evangelischen Kirchenbund der DDR Oberkonsistorialrat. An der Bildung des Kirchenbundes hatte er entscheidend mitgewirkt. Stolpe, der Taktiker, agiert im Umgang mit den Mächtigen der SED und des Staates, was meistens das gleiche war, niemals hektisch, sondern wohlüberlegt, listig, manchmal für Beobachter auch undurchschaubar.
Er hatte nie an eine schnelle Wiedervereinigung geglaubt
Er war misstrauisch, zog ungerne jemand ins Vertrauen, weil er auch im Kreis der Evangelischen Kirche nicht sicher sein konnte, ausgerechnet einem Zuträger der Staatssicherheit gegenüber zu offen gewesen zu sein. Er ist, gerade nach der organisatorischen Trennung zur Kirche der Bundesrepublik, derjenige, der die Kontakte zur EKD weiter hält, jede Chance auf Begegnungen sucht. In den letzten Jahren und Monaten vor der Wende, in denen die Oppositionellen in der DDR einen Schutzraum suchten, zeigte sich, wie weitsichtig Stolpes Politik gewesen war. Denn nun erwies sich die Evangelische Kirche als einziger Ort, der eine Zuflucht bieten konnte.
Manfred Stolpe hat nie behauptet, an eine schnelle Wiedervereinigung geglaubt zu haben. Das lag wohl außerhalb seines Vorstellungsvermögens, da war er nicht anders eingestellt als Millionen seiner Landsleute im Osten und Westen der geteilten Nation. Aber an der Einheit dieser Nation und an der Einheit im Glauben, an diesen beiden Visionen hielt er schon fest. Geradezu symbolisch stehen dafür seine fortlaufenden Begegnungen mit prominenten Vertretern des politischen Protestantismus in der Bundesrepublik. Richard von Weizsäcker, Jürgen Schmude, Helmut Schmidt, Johannes Rau, das sind nur einige der Namen, die dafür Zeugnis ablegen.
Der ehemalige nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor hat dieses zähe Beharren Stolpes sowohl auf den Westkontakten als auch auf dem Begriff der „Kirche im Sozialismus“ einmal in einem Satz zusammengefasst: „Stolpe hat zu DDR-Zeiten die Drecksarbeit gemacht und alle Kirchenleute waren froh, dass er ihnen das abgenommen hat.“ Stolpe hat diese Zeit selber später in einem Gespräch mit den beiden Journalisten Christoph Singelnstein und Jost- Arend Bösenberg aufgearbeitet.
Man versuchte ihn als Stasi-IM abzustempeln
Er habe manchmal im Kontakt mit staatlichen Stellen wohl geglaubt, besser als alle anderen Bescheid zu wissen. Die Quittung habe er später bekommen, als seine politischen Gegner versuchten, ihn als Stasi-Mitarbeiter abzustempeln. Unbestritten nahm er 1978 in einer konspirativen Wohnung der Stasi die Verdienstmedaille der DDR entgegen. Eine antiquarische Bibel im Werte von 3000 DM als Geschenk des Ministeriums für Staatssicherheit bekommen zu haben, dementierte er auch nicht. Als 2005 das Bundesverfassungsgericht entschied, man dürfe ihn nicht als IM, als inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi bezeichnen, endeten die Anwürfe gegen ihn.
Dagegen gewehrt hatten sich auf ganz andere Art schon viel früher „seine“ Brandenburger. Es hat nach der Wende, als es in der früheren DDR freie Wahlen gab, keinen Regierungschef gegeben, der so wie Manfred Stolpe das Wir-Gefühl eines ganzen Bundeslandes verkörperte. In Meinungsumfragen sagten Mitte der Neunziger Jahre 95 Prozent der Brandenburger, sie würden Manfred Stolpe kennen. Seine Umgebung kommentierte das mit einem Lächeln: Es seien nicht 95, sondern 285 Prozent gewesen, weil er jeden Brandenburger mindestens drei Mal getroffen habe.
Die Entstehung des „Mythos Stolpe“ hängt eben mit dem Zorn seiner Brandenburger auf die politischen Widersacher zusammen, die aus Stolpe den Stasi-Kumpel machen wollten. Nicht zuletzt der „Spiegel“ kam mit immer neuen Anschuldigungen, die von konservativen Printmedien aufgenommen wurden.
Die Gegenreaktion der Wählerinnen und Wähler trieb Stolpes SPD bei der Landtagswahl 1994 auf 54,1 Prozent der Stimmen. Das waren 16 Prozent mehr als vier Jahre zuvor, und drei Mal so viele, wie jeweils CDU als auch PDS/Die Linke erreichten. Das sei eine Trotzreaktion der Brandenburger Wähler gewesen, wurde das Ergebnis damals gedeutet.
Er gab dem Bundesland Zusammenhalt
Vielleicht spielte aber auch eine Rolle, dass Stolpe in den zwölf Jahren, die er Ministerpräsident war, seinem Bundesland eine eigene Struktur und einen inneren Zusammenhalt gegeben hatte. Für dieses trotzige Selbstbewusstsein steht auch ein Satz von ihm: „Leute, ihr müsst nicht so tun, als ob ihr alle erst am 3. Oktober 1990 geboren wurdet. Ihr könnt zu dem stehen, was ihr in der DDR unter schwierigen Bedingungen geleistet habt, wie ihr gelebt, gearbeitet, Familien gegründet habt.“
Die Voraussetzungen, unter denen das Land Brandenburg in die Einheit startete, waren nicht gut. Ein die Gesellschaft stabilisierendes Bürgertum, wie etwa in Sachsen, gab es in Brandenburg nicht mehr. Viele waren in den Westen geflüchtet, die Bedingungen für eine einträgliche Landwirtschaft waren nicht nur deswegen schlecht.
Aus armen Böden wächst nun mal nur schwer Reichtum. Hinzu kam die Strukturkrise. Außerhalb des Speckgürtels rund um Berlin war die im freien Wettbewerb unrentabel gewordene Industrie zusammengebrochen. Manfred Stolpe versuchte, mit staatlicher Unterstützung für spektakuläre Neugründungen wie die Cargolifterhalle oder ein Halbleiterwerk und den Lausitzring, attraktive Unternehmen und Arbeitsplatzangebote in die Landschaft zu platzieren.
Das alles ging schief, denn die freie Wirtschaft lässt sich nicht in Randregionen locken, wenn ihr dort keine, die Entfernung von der Metropole ausgleichenden Vorteile geboten werden. Das ist heute, wo die Internetversorgung so miserabel ist, ein noch größeres Problem als zu Stolpes Regierungszeiten.
Erfolge bei der Ansiedlung von Arbeitsplätzen passieren nur da, wo der Staat die Weichen stellen konnte. Bei den Universitäten etwa, in Frankfurt/Oder und in Cottbus. Über Stolpes Schlagwort von der „dezentralen Konzentration“ wurde viel gelästert. Tatsächlich ist die Platzierung von Behörden, Universitäten, Gerichten und Institutionen der Gesundheitsfürsorge in Randgebieten inzwischen als Erfolgsfaktor erkannt.
Stilles Führen ohne Kommandoton
Es ist auch allemal klüger, als die Zuwanderung nach Berlin auch noch zu unterstützen. So schön ist eine immer weiter wachsende Großstadt von nahezu vier Millionen Einwohnern nämlich nicht.
Als bei der Landtagswahl 1999 die SPD in Brandenburg fast 15 Prozent verlor, hieß es, Stolpes Stern sinke, und als er 2002 als Ministerpräsident zurücktrat und an Matthias Platzeck übergab, meinten viele, diese Karriere sei nun am Ende angelangt. Die erfolgreichen Jahre als Bundesverkehrsminister straften alle Lügen, die Stolpe abgeschrieben hatten. Sein stilles Führen ohne Kommandoton – Kann sich da bitte mal jemand kümmern? – hatte sich als Methode, in einer Regierung den Weg anzugeben, offenbar doch noch nicht überlebt.
Nach der Bundestagswahl 2005, die zur Bildung einer Großen Koalition führte, schied Stolpe aus dem Amt des Bundesverkehrsministers. In der Brandenburger Politik war er von da an wacher Beobachter. Er unterstützte den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche als Symbol der Versöhnung, lobte den Verzicht auf eine Kreisgebietsreform.
Seine Frau blieb neben dem Glauben seine Stütze
Der Feind in seinem Körper aber, der war ihm geblieben. Die regelmäßigen Termine im Bergmann-Klinikum hielt er nun penibel ein. Seine Frau Ingrid, die ihn wegen ihrer Krebserkrankung durch viele Therapien begleitete, blieb seine Stütze, sein Halt, neben dem Glauben.
Lange hoffte und vertraute er, dass seine Ärzte immer einen Schritt schneller als die nächste, möglicherweise dann tödliche Streuung der Krebszellen sein würden. Aber im letzten Jahr ließen die Kräfte nach. Er ahnte, dass das Ende dieses Kampfes nahe war. Dass es ein Ende mit ihm haben würde, und sein Leben ein Ziel, und er davon gehen müsse – das hatte ihm der Psalm ja stets in das bis zum Schluss wache Bewusstsein gerufen.
Gerd Appenzeller
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