zum Hauptinhalt
Kirchenmann. Die Gedenkfeier in der Nikolaikirche wurde auch auf eine Leinwand übertragen. 1959 zog der gebürtige Stettiner Manfred Stolpe nach Potsdam – weil ihm der Umzug nach Berlin verwehrt blieb.
© Ottmar Winter

Abschied von Manfred Stolpe: Das Vermächtnis des Brückenbauers

Familie, Politiker, Weggefährten und Bürger nehmen in und vor der Potsdamer Nikolaikirche Abschied von Brandenburgs früherem Ministerpräsidenten Manfred Stolpe.

Potsdam - Manchmal brummte er auch nur. In diesen nächtelangen Verhandlungen um Regierungskoalitionen, Fördertöpfe und Finanzmittel. Während dieses strapaziösen Ringens um den Aufbau Ost nach der Wiedervereinigung, nach diesem Start des Landes Brandenburg in eine neue, demokratische Zeit, hörte Manfred Stolpe oft lange nur aufmerksam zu, ließ andere ausreden, wartete mit seinen Argumenten. Und manchmal, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Potsdamer Nikolaikirche, „die ihn kennen, wissen, was ich meine – brummte er auch nur“.

Es war das beredte Räuspern eines Staatsmannes, der seine Worte mit Bedacht wählte, selten laut wurde, und zum Erklärer eines untergegangenen Staates, der ostdeutschen Seele, wurde. „Von Manfred Stolpe, der sehr lebensnah erzählen und erklären konnte, habe ich viel über den Teil Deutschlands gelernt, in dem ich selbst nicht aufgewachsen bin“, sagt Steinmeier. Ein Ostdeutscher, der Westdeutschland verstand – das sei Stolpe gewesen. Ebenso ein Ostdeutscher, der den Ostdeutschen Mut machte. Ein Brückenbauer.

Stolpes Erklären, Deuten, Mut machen, sein Brummen, das signalisierte, ob das Gegenüber die Lage aus seiner Sicht erfasst hatte oder eben nicht, werden fehlen. Am Dienstag nahmen Politiker wie Frank-Walter Steinmeier, Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, dessen Vorgänger und Stolpes Nachfolger Matthias Platzeck, Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, Altbundeskanzler Gerhard Schröder (alle SPD) und die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), aber auch Weggefährten und Bürger bei einer im rbb-Fernsehen und auf einer Leinwand vor der Nikolaikirche live übertragenen Gedenkfeier in Potsdam Abschied von Manfred Stolpe.

Der SPD-Politiker, von 1990 bis 2002 Ministerpräsident in Brandenburg und bis 2005 Bundesverkehrsminister, war am 29. Dezember nach langer Krebserkrankung gestorben. Stolpe, der seit 2012 mit seiner Frau Ingrid in einer Potsdamer Seniorenresidenz wohnte und im engsten Familienkreis auf dem Bornstedter Friedhof beigesetzt wird, wurde 83 Jahre alt.

"Wortloses Urvertrauen"

Geboren wird er am 16. Mai 1936 im heute polnischen Stettin. „Als der Krieg ausbrach, war ich drei Jahre alt“, schreibt Stolpe in seinen Erinnerungen, die in der Nikolaikirche in einem kurzen Auszug vorgelesen werden. Mit Freunden spielt er auf der Straße mit Holzgewehren russischer Gefangener, die Kinder werden von Jagdfliegern beschossen, bleiben unverletzt. „Trotz des Kriegs habe ich meine Kindheit nicht als bedrohlich empfunden“, wird Stolpe zitiert. Das liegt an der Mutter, die nie Angst gezeigt habe, auch nicht bei der Flucht 1945 nach Greifswald. Zwischen seiner Mutter und ihm habe es ein „wortloses Urvertrauen“ gegeben.

Anderen Mut machen, vertrauen – ohne viele Worte. Vielleicht kommt sie von der Mutter, vom Überleben als Kriegskind, diese Gabe, die Ministerpräsident Dietmar Woidke seinem Vorvorgänger im Amt zuschreibt: „Anderen zur Seite stehen“ – das sei der rote Faden in Stolpes Leben gewesen. „Den Menschen zuhören, das Miteinander pflegen, unser friedliches, demokratisches, tolerantes Brandenburg stärken und weiterentwickeln. Das ist sein Vermächtnis.“

Familie. Bischof Christian Stäblein begrüßt Witwe Ingrid Stolpe mit Tochter, Schwiegersohn und Enkeln.
Familie. Bischof Christian Stäblein begrüßt Witwe Ingrid Stolpe mit Tochter, Schwiegersohn und Enkeln.
© Soeren Stache/ dpa

"Lichtträger im Dunkeln"

Stolpe sei ein ungewöhnlicher Mensch gewesen, der anderen Schutz und Hoffnung gegeben habe, sagt auch Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) in ihrer Rede. Einen „Lichtträger im Dunkeln“ nennt sie Stolpe, der über seine schwere Krankheit nicht klagte.

Das „Zeitalter der Extreme“ habe Stolpes acht Lebensjahrzehnte geprägt, sagt Steinmeier. NS-Zeit, Flucht, Mauerbau, Kalter Krieg und Teilung – „es waren die Erfahrungen von Gewaltherrschaft, von fanatischen Ideologien und Menschenverachtung, die dieses Leben begleiteten“, so Steinmeier. Stolpe sei es dadurch „zur politischen Pflicht“ geworden, sich für den Ausgleich und die friedliche Verständigung einzusetzen. Auch Steinmeier spricht wie Woidke von einem „Vermächtnis“, das Stolpe hinterlasse. Die ostdeutsche Geschichte sei noch immer kein selbstverständlicher Teil des gesamtdeutschen Wirs geworden. „Wir können es im dreißigsten Jahr der Einheit als ein Vermächtnis Manfred Stolpes begreifen“, dies zu ändern“, fordert der Bundespräsident, der in seiner Rede auch die umstrittenen Kontakte Stolpes zur Stasi als Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in der DDR nicht ausspart. Die Vorwürfe, er sei IM der Staatssicherheit gewesen – das Bundesverfassungsgericht entschied 2005, dass er nicht als solcher bezeichnet werden dürfe – hätten Stolpe schwer getroffen. Man müsse im Rückblick anerkennen, dass für die menschliche Hilfe, die Stolpe als Kirchenjurist geben konnte – das Abwenden von Haft und Repressalien, das Erlassen einer Einberufung zur NVA – das Zwiegespräch mit dem lieben Gott nicht ausreichte, sondern dass es erforderlich gewesen sei, „mit den Schergen des Unrechtsregimes zu verhandeln“. Der Kirchenmann Stolpe habe in einem System der Unfreiheit „Räume der Freiheit geschaffen und ausgeweitet“, sagt auch Landesbischof Christian Stäblein in seiner Predigt, die dem weltlichen Teil der Gedenkfeier vorausgeht.

Weggefährten. Die früheren CDU-Politiker Lothar de Maizière und Rita Süssmuth.
Weggefährten. Die früheren CDU-Politiker Lothar de Maizière und Rita Süssmuth.
© Reuters

Seine Trauerfeier soll der 2004 erstmals an Krebs erkrankte Stolpe selbst mit geplant, die Gästeliste geschrieben haben – auf der eben nicht nur Politiker und Kirchenleute, sondern auch Künstler wie Sängerin Katja Ebstein stehen, der Stolpe noch zu DDR-Zeiten half, in Görlitz ein Lutherdenkmal aufzustellen. Und – das dürfte ihm sehr wichtig gewesen sein – die Gedenkfeier ist öffentlich, „seine“ Brandenburger dürfen teilnehmen, auf den freien Plätzen in der Kirche oder vor der Leinwand. „Er war unser Landesvater“, sagt ein älterer Herr vor der Nikolaikirche. „Manfred Stolpe hat so viel für unser Land getan, er war immer nah an den Menschen“, sagt eine Frau. So beschreiben es viele der mehreren hundert Gäste. „Ich möchte ihm die Ehre erweisen, er war ein besonderer Mann für dieses Bundesland“, sagt eine ältere Potsdamerin, Tränen in den Augen.

Musik für den Brückenbauer

Hätte ihm die Feier gefallen? Davon kann man ausgehen, denn märkischer geht es kaum. Nach dem Gottesdienst folgt der weltliche Teil. Das Landespolizeiorchester spielt zwischen den Reden „Über sieben Brücken musst du geh’n“, „Bridge Over Troubled Water“ und „My Way“. Immer wieder Brücken, Wege als Motiv. Musik für einen Brückenbauer, als der er sich auch selbst gerne sah. Lieder, das wird er sich vielleicht gedacht haben, die die Brandenburger hören wollen, wenn sie ihm via Fernsehbildschirm die letzte Ehre erweisen. Und dann, zum Abschied, wie könnte es anders sein, die inoffizielle Hymne Brandenburgs, seiner zweiten Heimat. Büchsenschütz: „Märkische Heide, märkischer Sand.“ Das Lied vom roten Adler, der hochsteigt über Brandenburgs dunklen Kiefernwäldern. Heil dir mein Brandenburger Land. Die Trauergemeinde singt und brummt.

Manfred Stolpe habe bei diesem Lied gerne mitgesungen. „Schief“, sagt Bischof Stäblein und einige in den Kirchbänken, die sich an Veranstaltungen mit Stolpe und märkischem Liedgut erinnern, lächeln. „Ein fröhliches, kräftiges Neben-dem-Ton.“ So beschreibt Stäblein die Sangeskünste des Mannes, der sonst so gut den Ton traf – bei Verhandlungen, beim Bürgergespräch.

Ex-Kollegen. Gerhard Schröder mit Ehefrau So-yeon Schröder-Kim. Unter ihm als Kanzler war Manfred Stolpe Verkehrsminister.
Ex-Kollegen. Gerhard Schröder mit Ehefrau So-yeon Schröder-Kim. Unter ihm als Kanzler war Manfred Stolpe Verkehrsminister.
© Ch. Gateau/dpa

Am Ende seiner langen, leidvollen Krankheitsgeschichte musste Manfred Stolpe den Verlust seiner Stimme hinnehmen. Gehört wurde er trotzdem. Sein Rat war bis zum Schluss gefragt. Sie habe sich regelmäßig per SMS mit ihm ausgetauscht, seine Meinung eingeholt, etwa zum Zustand der SPD, sagte Brandenburgs neue Kulturministerin Manja Schüle beim Eintrag ins Kondolenzbuch kurz nach Stolpes Tod. Und manchmal, bei den immer weniger werdenden persönlichen Begegnungen, bei öffentlichen Terminen, musste auch gar nicht viel gesagt werden. Manchmal reichte eben dieses Stolpesche Brummen als märkischer Seismograph. Seine Art, auch ohne große Worte Brücken zu bauen. (mit sca)

Zur Startseite