Ex-SPD-Chef Matthias Platzeck im Interview: „Befinden uns in einer existenziellen Krise“
Der frühere Brandenburger Ministerpräsident und ehemalige SPD-Chef Matthias Platzeck sieht seine Partei in schwieriger Lage. Im dpa-Interview erklärt er auch, wie er die Chancen der Brandenburger SPD zur Landtagswahl im September beurteilt.
Potsdam - In drei Wochen wird in Brandenburg und Sachsen gewählt. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck sieht seine Partei „in einer existenziellen Krise“. „Ich wünsche mir jetzt, dass wir mit Leidenschaft kämpfen und die drei Landtagswahlen im Osten einigermaßen ordentlich bestehen“, sagte der 65-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Am 27. Oktober wählt auch Thüringen einen neuen Landtag. Bei der Suche nach einer neuen SPD-Spitze wünscht sich Platzeck ein Duo mit „Herz und Verstand“, das Inhalte besser vermittle.
Frage: Sie und andere ehemalige SPD-Vorsitzende haben sich im Juni in einem Aufruf in großer Sorge um ihre Partei gezeigt. Was wünschen Sie der SPD?
Man kann es nicht anders beschreiben, wir befinden uns in einer existenziellen Krise. Die Ursachen dafür sind vielfältig und nicht nur im eigenen Land zu suchen. Wer in den vergangenen Jahren aufmerksam zum Beispiel nach Italien, Frankreich oder Polen geschaut hat, der konnte auch anderswo in Europa Gefahren heraufziehen sehen für die soziale Demokratiebewegung. Ich wünsche mir jetzt, dass wir mit Leidenschaft kämpfen und die drei Landtagswahlen im Osten einigermaßen ordentlich bestehen. Und dann wünsche ich mir, dass wir für unsere Partei ein Führungsduo bekommen, das Herz und Verstand miteinander verbindet, Organisations- und Politikerfahrung aufweist wie auch die Fähigkeit, Menschen anzusprechen und zu erreichen. Die Politik ist personalisierter geworden. Unser Programm, unsere Vorhaben sind ok, aber die Vermittlung, die nur über Personen stattfinden kann, muss besser werden. Es gehört ganz schön Mut dazu, das sieht man an der Bewerberlage. Es ist eine fast erdrückende Verantwortung, eine Partei aus der Krise zu führen, die Deutschlands Politik über eineinhalb Jahrhunderte geprägt hat.
Wirkt die Suche nach einem Vorsitzenden nicht schleppend?
Ich bin mir sehr sicher, dass wir eine Auswahl haben werden, die größer ist, als die, die sich heute darstellt. Ich hoffe darauf, dass das eine lebendige, aber auch sehr faire Kandidatenkür wird. Wichtig wird, dass das in einem Geist passiert, der über allem und nach allem noch hinreichend Vorrat an Gemeinsamkeit ausstrahlt.
Wo sehen Sie Ihre Partei in einem Jahr?
Ich kann mir unsere Partei durchaus weiter in der Bundesregierung vorstellen, die eine Menge an Dingen bis dahin weiter auf den Weg gebracht hat. Ich glaube, dass die wirtschaftlichen als auch die politischen Verhältnisse - speziell die außenpolitischen - sich in den nächsten Monaten zunehmend komplizieren werden. Da ist eine handlungsfähige Bundesregierung unter Beteiligung der Sozialdemokraten sinnvoll. Wir sehen auch, dass es im Moment längst wieder um den Erhalt des Friedens geht.
Sie teilen die Vorschläge also nicht, die große Koalition zu verlassen?
Ich sehe natürlich auch, dass es die Argumente gibt, sich in der Opposition zu regenerieren bis dahin, dass die spezielle Situation es verlangt. Natürlich kann es eine Situation geben, in der es opportun erscheint, diese Koalition zu verlassen. Aber wenn ich es prinzipiell sehe, glaube ich, dass es gut und sinnvoll wäre, in der Bundesregierung zu arbeiten, ihr den Stempel aufdrücken. Erhalt der Arbeitsplätze und Klimaschutz zusammen reicht alleine, um einen Regierungsalltag zu füllen. Dazu kommt die Friedenssicherung, wo die SPD ganz spezielle Fähigkeiten hat. Die Jahre der SPD in der Opposition von 2009 bis 2013 haben nicht unbedingt dazu geführt, dass wir danach eine explosionsartige positive Entwicklung genommen haben.
In den jüngsten Umfragen lag die AfD in Brandenburg gleichauf mit der SPD oder vor ihr auf dem ersten Platz. Was kann die SPD aus Ihrer Sicht dagegensetzen?
Das Land steht so gut wie noch nie da. Dass wir eine solche Wirtschaftsentwicklung, solche Arbeitslosenzahlen, eine solche Einkommenssituation haben, davon hätten wir vor 10, 15 Jahren nur träumen können. Das haben Dietmar Woidke und seine Mannschaft durch harte Arbeit auf einen guten Weg gebracht. Nun müssen alle mit Mut und Herz in diesen Wahlkampf hineingehen und die Alternativen ganz klar aufzeigen. Wenn uns das mit der entsprechenden Verve gelingt, gehe ich fest davon aus, dass die Sozialdemokratie auch nach 30 Jahren in Brandenburg wieder stärkste politische Kraft werden kann. 2004 lagen wir sechs Wochen vor der Wahl in den Umfragen teilweise abgeschlagen auf dem dritten Platz hinter CDU und Linkspartei und haben am Ende die Wahl gewinnen können. Da ist eine Menge möglich in den letzten Wochen.
Was fehlt, dass die SPD in Umfragen so gesunken ist?
Die Wahlentscheidung wird inzwischen erst in den letzten Tagen oder Wochen getroffen. Zum anderen haben wir eine Grundstimmung, die sich ein Stück von den Daten und Fakten gelöst hat. Das hat auch mit Erlebnissen in 30 Jahren Deutsche Einheit zu tun, mit der Globalisierung und der Digitalisierung der Arbeitswelt und daraus bei nicht wenigen erwachsenden Ängsten. Dann kommt hinzu: Auf ostdeutschen Bierbänken bekommen Sie deutlich öfter als im Westen den Fall geschildert, dass die Kinder seit den 1990er Jahren weit weg gegangen sind. Dazu kommen oft gebrochene Erwerbsbiografien hinzu: Jetzt werden so langsam die Rentenbescheide in größerer Zahl ausgestellt, die teilweise sehr ernüchternd sind. Allein und mit niedriger Rente alt zu werden, ist keine schöne Aussicht. Das betrifft glücklicherweise längst nicht alle, aber durchaus viele. Die Ostdeutschen haben nach der Wiedervereinigung Brüche in einer Tiefe und Heftigkeit erlebt, die die Westdeutschen so nicht kennen und nicht kannten. So etwas kann auch nach Jahrzehnten wieder alles auf einmal hochkommen. Natürlich ist das etwas, worauf die AfD mit relativ billigen Ansätzen fußen kann.
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