Aggressive Spirale oder Einzelfälle?: Brandbrief aus der Steuben-Gesamtschule
Gewalt, Drogen und ein Klima der Angst: Ein anonymer Brief aus der Steuben-Gesamtschule in Potsdam schildert problematische Verhältnisse im Schulalltag. Die Stadt legt die Erweiterung der Gesamtschule vorerst auf Eis. Ministerium und Schulleitung sprechen von Einzelfällen.
Potsdam/Kirchsteigfeld - Die Stadt Potsdam hat die Pläne für eine Erweiterung der Steuben-Gesamtschule gestoppt. Das bestätigte Stadtsprecherin Christine Homann am Dienstag auf PNN-Anfrage: „Wir gehen davon aus, darauf verzichten zu können.“ Die Schule mit derzeit 660 Schülern und unter dem Landesschnitt liegenden Prüfungsergebnissen sollte ab 2020 von fünf auf sogar sieben Klassenzüge erweitert werden – als Ausweichstandort für den noch in der Planung befindlichen Schulcampus am Bahnhof Rehbrücke.
Dass die Gesamtschule an der Ricarda-Huch-Straße nicht noch mehr Schüler aufnehmen muss, scheint eine gute Nachricht. Denn möglicherweise herrschen an der Steuben-Schule mindestens problematische Zustände. Beim brandenburgischen Bildungsministerium spricht man auf Anfrage von Einzelfällen – ein anonymes Schreiben, das den PNN vorliegt, schildert jedoch auf fünf Seiten detailliert „massive Übergriffe“ zwischen Schülern in unteren Klassenstufen und gegen Lehrer. „Es herrscht eine Angstkultur“, so der unbekannte Verfasser, der seinen Ausführungen nach selbst Pädagoge ist. Der Unterricht sei in vielen Klassen „eine reine Qual“ für die Lehrer, weil es vielfach nicht gelinge, die in der Schule vorherrschende „aggressive Spirale zu durchbrechen“.
Bedrohungen, sexistische, antisemitische und rassistische Abwertungen, Spucken oder Schlägereien
Es gebe dauerhaft und alltäglich Bedrohungen, sexistische, antisemitische und rassistische Abwertungen, Beleidigungen der Lehrer, Spucken, Werfen mit Mobiliar oder Schlägereien. Schüler würden sich brüsten, in den Pausen Drogen zu konsumieren. Angesichts „der hohen Zahl gewaltbereiter, extrem antisozialer und erziehungsresistenter Jugendlicher“ sei das geltende Regelsystem kaum wirksam. „Schule im klassischen Sinne erreicht diese Schüler nicht“, heißt es in dem Brief weiter. Und: „Die aktuelle Sozialarbeit greift zu kurz und die Jugendlichen sehen einer sehr traurigen Zukunft entgegen.“
Die Schilderungen treffen auf eine deutschlandweit geführte Debatte über Gewalt an Schulen. Eine bundesweite Studie der Gewerkschaft Bildung und Erziehung (VBE) hatte Anfang Mai ergeben, dass es in den vergangenen fünf Jahren an 26 Prozent der untersuchten 1200 Schulen zu körperlicher Gewalt gegen Pädagogen gekommen sei. 48 Prozent der Schulen hätten „psychische Gewalt“ gegen Lehrkräfte gemeldet, also etwa Bedrohungen und Beleidigungen.
Bildungsministerium kann Häufung von Übergriffen nicht bestätigen
Die anonymen Schilderungen aus der Steuben-Schule kennt auch das Bildungsministerium. Allerdings könne man eine Häufung von Übergriffen nicht bestätigen, sagte Ministeriumssprecher Ralph Kotsch am Dienstag. So liege keine einzige Beschwerde von Lehrkräften der Schule vor. Dabei seien diese verpflichtet, etwa bei Gewaltvorfällen die Schulleitung und das Schulamt „unverzüglich zu informieren“ und einzuschreiten. Denn nur dann könne auch reagiert werden.
Auch der Steuben-Schulleiter Frank Brandt sagt laut Kotsch, die Behauptungen seien haltlos und entsprächen nicht den Tatsachen. Anders als in dem Schreiben behauptet, sei etwa der Krankenstand der Lehrkräfte im Vergleich zu anderen Schulen nicht auffällig hoch. Bei einer außerordentlichen Lehrerkonferenz in der vergangenen Woche hätte sich das Kollegium fassungslos ob der Vorwürfe gezeigt, so Kotsch weiter. Für ein direktes Gespräch mit den PNN stand der Schulleiter nicht zur Verfügung.
Laut dem Sprecher des Bildungsministeriums handelt es sich um Einzelfälle
Der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann hatte zu der besagten Gewaltstudie erklärt, aus Angst vor Reputationsverlust habe sich eine „Kultur des Schweigens“ an Schulen gebildet. Auch der Chef der brandenburgischen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Günther Fuchs, sagte den PNN, die Tendenz, dass sich Lehrer über Missstände an ihren Schulen beklagen, gehe zurück – etwa wenn aktuelle Probleme über den mehrstufigen Dienstweg auf die lange Bank geschoben würden. Ob diese Einschätzung bei der Steuben-Schule zutrifft, ist freilich offen.
Ministeriumssprecher Kotsch spricht in Bezug auf die Schule jedenfalls von Einzelfällen, „wie an vergleichbaren anderen Schulen“. Allerdings räumte Kotsch auch ein, dass in der von rund 110 Schülern besuchten Klassenstufe 7 allein in diesem noch nicht abgelaufenen Schuljahr elf schriftliche Verweise wegen schwerer Verstöße ausgesprochen wurden – das entspricht zehn Prozent der Schüler. In den Klassen 8 und 9 seien es jeweils nur bis zu zwei Verweise gewesen.
Wenn vorhandene Probleme noch schlimmer werden
Die Potsdamer Polizei wiederum bestätigte auf Anfrage für dieses Halbjahr bereits drei Einsätze an der Schule – wegen des Verdachts der Nötigung, der Bedrohung und der Körperverletzung. In den Vorjahren habe es weniger Einsätze gegeben, etwa wegen Graffiti. Gleichwohl handele es sich aus Sicht der Revierpolizisten um keine Brennpunkt-Schule, sagte Polizeisprecher Heiko Schmidt. Er begrüßte auch, dass die Einrichtung zusammen mit der polizeilichen Präventionsabteilung eine Veranstaltung „Anti-Gewalt“ anbieten wolle. Das zeige, dass man sich dem Thema mit externem Fachverstand nähern wolle, so Schmidt: „Das nicht gewollte Gegenteil ist das Alleinlassen der Jugendlichen mit möglicherweise vorhandenen Problemen, was diese dann in der Regel nur schlimmer werden lässt.“
Auch Ministeriumssprecher Kotsch betonte, die Schule gehe aktiv gegen Gewalt und Mobbing vor, trage etwa den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ und habe zuletzt Projekte mit Titeln wie „Gewaltfrei leben lernen“ durchgeführt. Die Schule habe sich auch als Ziel gesetzt, sich 2019 um Aufnahme in das Landesprogramm zum „Gemeinsamen Lernen“ zu bewerben, um die Qualität zu verbessern. „Der Schule stünden dann auch mehr Lehrkräfte zur Verfügung“, sagte der Ministeriumssprecher. Eine PNN-Analyse hatte bereits im Februar gezeigt, dass die Prüfungsergebnisse in der zehnten Klasse und in den Leistungskursen zum Abitur an der Steuben-Schule seit Jahren unter dem Landesschnitt liegen.
Vor dem Hintergrund hat die Stadt ihre Pläne für eine Erweiterung der Schule mit Hilfe von Containern für 3,5 Millionen Euro nun auf Eis gelegt. Stadtsprecherin Homann sagte, alternativ werde die Interimsgesamtschule an der Esplanade, die ab Mitte 2019 dort öffnen soll, nun drei- statt zweizügig geplant. Dies könne den Bedarf im weiterführenden Bereich decken. Zu den Gewaltvorwürfen habe man Kontakt zur Schule und zum Schulamt aufgenommen, um mögliche Hilfen auszuloten, so die Sprecherin: „Dazu soll es noch Gespräche geben.“
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Kommentar: Die Entscheidung der Stadt, die Steuben-Gesamtschule nicht zu vergrößern ist richtig. Bereits vor den neuen Beschwerden hatte es an der Schule Probleme gegeben.
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