Alltagsrassismus in Potsdam: Beleidigt, gekränkt, angegriffen und verletzt
Eine Mitarbeiterin des Hotels Bayrisches Haus verließ die Stadt wegen rassistischer Attacken. Sie ist kein Einzelfall. Potsdamer mit ausländischen Wurzeln erzählen von ihren Erfahrungen.
Potsdam - Anastasia Venevskajas Familie stammt aus Russland, ihr Vater trat vor 20 Jahren als Ökologie-Professor eine Forschungsstelle im Wissenschaftspark auf dem Telegrafenberg an. Wegen ihrer Herkunft musste sie in Potsdam einiges ertragen. Während ihrer Schulzeit auf der Lenné-Gesamtschule riefen Mitschüler der heute 27 Jahre alten Lehramts-Studentin mal „Russen-Schlampe“ und mal „Russen-Nutte“ nach. War kein Lehrer in der Nähe, kam es vor, dass sie ihr den Hitler-Gruß entgegenreckten. Sie war in der 10. Klasse, als ein Junge sie mit drei Faustschlägen ins Gesicht so verletzte, dass viel Blut floss. „Du hast bestimmt provoziert“, kommentierte eine Lehrerin das Geschehen.
Ein Klassenausflug führte ins ehemalige Konzentrationslager Ravensbrück nördlich von Berlin. Als die Schüler erfuhren, dass dort auch Russen ermordet wurden, gab es, ihre Mitschülerin Anastasia im Blick, Gelächter. Sie wechselte auf die Steuben-Gesamtschule in Drewitz.
„Ich bin immer wieder fassungslos“
Russisch hören manche Potsdamer offenbar nicht gern. Unterhält Venevskaja, die seit elf Jahren einen deutschen Pass hat, sich mit einer Freundin in ihrer Muttersprache auf der Straße, faucht sie gelegentlich jemand im Kasernenton an: „Das ist Deutschland hier! Hier wird Deutsch gesprochen!“ Als sie mit ihrer Tochter einen Termin bei einer Amtsärztin hatte und ihrem verschüchterten Kind auf Russisch Mut machen wollte, wies die Medizinerin sie mit einer Standortbestimmung streng zurecht: „Wir sind hier in Deutschland und sprechen Deutsch.“
Schlimmer geht es ihrem Freund Dejan Hajra, 32, er stammt aus Serbien und ist Roma. „Verbrecher seid ihr alle, du Kanake“, wird ihm auf der Straße zugerufen. Venevskaja betreibt neben ihrem Studium eine Firma, die Wohnungsauflösungen betreibt, ihr Freund arbeitet mit. Einmal klingelte er in der Waldstadt an einer Wohnungstür, um eine Waschmaschine zu entsorgen. Eine ältere Frau öffnete, sah den Mann, der eine etwas dunklere Hautfarbe hat als der gemeine Deutsche, und knallte die Tür wortlos zu.
„Ich bin immer wieder fassungslos“, sagt Venevskaja, „ich glaubte, mir einen Platz in Deutschland erkämpft zu haben. Ich studiere, habe eine Firma und zahle Steuern. Aber wer in Potsdam aus Russland, Vietnam, Afghanistan, Syrien oder Kamerun kommt, wird oft schlecht behandelt. Wie ein Bergmensch, der in einer Höhle lebt und keine Kultur hat.“
Debatte in den sozialen Netzwerken
Seit die PNN am vergangenen Samstag berichteten, dass die 22 Jahre alte Victoria Peters ihre Arbeitsstelle im Romantik Hotel Bayrisches Haus nach drei Wochen aufgab, weil sie in Potsdam mehrfach ausländerfeindlich beleidigt worden war, ist in der Stadt und den sozialen Medien eine neue Debatte um den sogenannten Alltagsrassismus losgebrochen.
Hunderte empörten sich in den sozialen Medien über die Rassisten, etliche zollten Hotel-Direktor Alexander Dressel großen Respekt, weil er sich unmissverständlich auf die Seite seiner schwarzen Mitarbeiterin stellte, die als Kind nigerianischer Eltern in Halle geboren ist. Sie hat Potsdam in dieser Woche verlassen. Unter anderem hatte ein Mann in einem Bus der Linie 631 vom Hauptbahnhof in Richtung Werder Victoria Peters gefragt: „Na, wie war die Fahrt im Schlauchboot? Sie sind doch bestimmt im Schlauchboot hergekommen.“ Auf Facebook kommentierte das Christian P. in einem Potsdamer Forum: „Vielleicht hat er es auch nett gemeint?“ Rainer L. sekundierte: „Man muss nicht gleich so empfindlich sein... Deutsche werden sehr oft als Nazis beschimpft, da hat sich seltsamerweise noch keiner aufgeregt... nur bei den Ausländern heißt es: Ach, der oder die Arme.“
Betroffene erzählen mit großer Traurigkeit
Einige Potsdamer mit ausländischen Wurzeln fanden den Mut, den PNN zu erzählen, wie auch sie unter dem vielfach salonfähig gewordenen Alltagsrassismus leiden. Ihre Schilderungen können kaum nachrecherchiert werden, sie müssen die journalistische Plausibilitätsprüfung bestehen – und der persönliche Eindruck spielt eine Rolle: Alle Gesprächspartner waren Menschen, denen man Glauben schenken mag. Mit einer großen inneren Traurigkeit erzählten sie, wie sie als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Seit vielen Jahren schon und manchmal jeden Tag.
Khalil Zia beispielsweise ist von seiner brandenburgischen Wahlheimat angetan. Afghanistan, das Land seiner Eltern, lag nach dem Abzug der russischen Besatzer in Trümmern, als er im Jahr 2000 flüchtete und nach Potsdam kam. Da war er gerade 15 Jahre alt.
Zia hat sich zu einem Musterbeispiel gelungener Integration hochgearbeitet. Der heute 35 Jahre alte Lebensmittelhändler wirkt kein bisschen müde, als er am vergangenen Mittwoch sein Obst und sein Gemüse sortiert, obwohl er sich Tag für Tag die Nacht um die Ohren schlägt und um Mitternacht zum Großmarkt nach Berlin aufbricht. „Meine Ware ist immer ganz frisch“, sagt er, „die Kunden erwarten das.“ Mit seiner Frau Viktoria, die aus der Ukraine stammt, führt er einen großen Lebensmittelladen im Schlaatz und einen weiteren in der Lindenstraße. Beide tragen fleißig zum Steueraufkommen bei, ziehen fünf Kinder groß. Seit vier Jahren hat die Familie einen deutschen Pass. „Potsdam ist eine gute Stadt, auch für Ausländer“, sagt Zia, „Und wenn es einige gibt, die uns beleidigen, weil wir Muslime sind oder weil unsere Haut ein bisschen dunkler ist, muss man das aushalten. Am besten ist, man reagiert überhaupt nicht.“
„Wir haben ihnen geraten, still zu bleiben“
Aushalten musste die Familie schon einiges. Sie blieb nicht verschont von den Attacken mancher Potsdamer, die vor allem Flüchtlinge als Zumutung, wenn nicht gar als Schmarotzer empfinden. „Meiner Frau sagte jemand, dass sie in Potsdam nichts zu suchen hat und hier abhauen soll“, erzählt Zia, „ja, es ist so: mich mögen ein paar Leute nicht, weil ich Moslem bin.“
Auch seine Kinder, heute 8, 14, 16, 18 und 20 Jahre alt, seien in der Grundschule in Babelsberg beleidigt worden. „Sie waren sehr gekränkt und haben uns gefragt, warum die anderen Schüler das tun“, sagt der Familienvater. „Wir haben ihnen geraten, still zu bleiben.“ Er sei froh, dass seine Kinder „inzwischen viele einheimische Freunde haben“.
Es ist sicher kein gutes Zeichen für den Zustand einer Gesellschaft, wenn Bürger mit ausländischen Wurzeln hier nur in Ruhe leben können, wenn sie das Aushalten von Demütigungen gelernt haben.
Das Gefühl nichts wert zu sein
Karina Khudoyan ist 34 Jahre alt. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ist in der armenischen Hauptstadt Eriwan geboren, sie kam aus der Ukraine nach Potsdam. Sie jobbte sie und finanzierte vieles aus eigener Tasche, um sich integrieren zu können. Sie bezahlte Deutschkurse, deren Kosten der Staat nicht tragen wollte, sie schloss eine Ausbildung zur Kosmetikerin ab.
Ihren ersten Job beendete die Chefin nach zwei Stunden, ohne dass sie ihr Können unter Beweis stellen konnte. „Es passt nicht mit uns“, hieß es. Beim zweiten Job spürte sie die Abneigung älterer Frauen: „Sie sahen mich an und guckten schnell weg“. Als sie am Platz der Einheit mit einer Freundin Russisch sprach, fuhr eine Passantin dazwischen: „Hier wird Deutsch gesprochen!“.
Die Ressentiments von Einheimischen spürte Khudoyan auch in dem Mietshaus, in dem sie wohnte. Eine ältere Deutsche schrieb ihr in fehlerhaftem Deutsch, aus Khudoyans Wohnung dringe Lärm durchs Haus. Sie solle doch dahin zurückkehren, wo sie herkomme. „Als Ausländerin kannst du in Potsdam leicht das Gefühl haben, dass du nichts wert bist“, sagt die intelligente, eloquente Frau. „Ich denke immer, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, dass ich hier sein darf“.
Ein Klima der Angst
Mitunter treten Potsdamer Alltags-Rassisten auch brutal auf. Sie schaffen ein Klima der Angst – und versuchen, in dem Land, in dem Preußenkönig Friedrich der II. die Zuwanderung förderte und die Religionsfreiheit etablierte, Fremde mit Worten und Taten auszuschließen. Seinen 1740 formulierten Leitsatz, dass „ein jeder nach seiner Fasson selich werden“ solle, möchten sie offensichtlich im Mülleimer der Geschichte entsorgen.
Die Chronologie, die der aus Landesmitteln finanzierte Verein „Opferperspektive - Solidarisch gegen Rassismus und rechte Diskriminierung“ zusammengetragen hat, zeichnet ein erschreckendes Sittenbild. Die PNN geben eine kleine Auswahl der Straftaten wieder:
Am 6. September 2014 hindern zwei Nachbarn einen Nigerianer daran, seine neue Wohnung im Schlaatz zu beziehen. Sie beschimpfen ihn rassistisch und sagen ihm, er werde „hier nicht wohnen“. Als er auf den Zugang besteht, schlagen die Täter ihm ins Gesicht. Im Juni 2015 beleidigt ein Mann, der aus einer Autowerkstatt kommt, einen Flüchtling aus Somalia nahe einer Unterkunft rassistisch, bevor er ihn schlägt und tritt. Der Somalier versucht, sich in die Unterkunft zu retten, und wird dort von weiteren aus der Werkstatt kommenden Männern geschlagen. „Der anwesende Wachschutz greift nicht ein“, hält der Verein Opferperspektive fest.
Wenig später, am 21. Juni, klingelt es am frühen Morgen an der Wohnungstür einer Kenianerin. Als sie öffnet, verschaffen sich zwei Männer gewaltsam Zutritt, schlagen auf die Frau ein und treten sie. Als ein 14 Jahre alter Junge am 9. September 2015 auf die Frage von drei Jugendlichen nach seiner Herkunft antwortet, er sei Araber, beleidigen sie ihn rassistisch. Einer prügelt auf ihn ein, bis er unter Schmerzen zusammenbricht. Als er am Boden liegt, tritt der Jugendliche weiter auf ihn ein.
Verletzt, beleidigt, misshandelt
Am 25. März 2016 trifft der Hass einen 34-jährigen Mann aus Kenia. Er wird in der Straße Erlenhof rassistisch beschimpft und geschlagen. Am 15. August attackiert ein Täter einen Mann aus Afghanistan, die Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung.
Eine Deutsche rammt am 16. Mai 2016 in der Waldstadt ihr Fahrrad gegen den Kinderwagen einer tschetschenischen Frau, die mit ihren drei Kindern unterwegs ist. Ein Rechtsextremer greift am 17. Juni am Hauptbahnhof zwei syrische Frauen körperlich an.
2018 wird die Lage in Potsdam nicht besser. Am 28. März beleidigt, schubst und tritt eine junge Frau in einer Straßenbahn drei Frauen aus Russland und verletzt sie leicht. Zwei Tage später wird eine Marokkanerin von zwei Tätern rassistisch beleidigt und angegriffen. Am 13. Juni attackieren zwei alkoholisierte Deutsche vom Balkon eines nahen Hauses zwei Besucher der Moschee in der Innenstadt, die aus dem Tschad und aus Syrien stammen, mit Pflastersteinen. Sie bleiben unverletzt.
Am Schlaatz misshandelt am 28. April 2019 ein Deutscher eine Frau, die offenkundig Muslimin ist und von ihrem acht Jahre alten Sohn begleitet wird. Er reißt ihr das Kopftuch herunter und zieht an ihren Haaren, die Frau erleidet Schmerzen an Kopf und Nacken.
Zivilcourage zeigt ein Jugendlicher am Abend des 11. Mai, einem Samstag, in einem Potsdamer Bus. Ein Ehepaar beleidigt drei ihnen gegenübersitzende junge Frauen rassistisch, als sie der Konfrontation aus dem Weg gehen wollen und sich umsetzen, folgt ihnen der Ehemann und beschimpft sie weiter. Der mutige Jugendlich stellt sich ihm in den Weg, wird von dem Mann angegriffen und verletzt. Auch der Busfahrer mischt sich ein, mit dem Jugendlichen hält er das Ehepaar bis zum Eintreffen der Polizei fest.
Am frühen Abend des 26. Juli 2019 greift ein älterer Deutscher am Bahnhof Charlottenhof einen jungen Libanesen an, stößt ihn von dessen Fahrrad und schlägt auf den am Boden liegenden Mann ein. Couragierte Potsdamer Frauen und Männer greifen ein, der Täter flieht. Der Libanese schafft es, den Deutschen trotz seiner Verletzungen zu fotografieren, einige Wochen nach der Tat stellt sich der Täter.
Eine hohe Dunkelziffer
„Wir wissen aus Studien, dass die Dunkelziffer bei sogenannter vorurteilsmotivierter Kriminalität groß ist“, sagt Judith Porath, Geschäftsführerin des Vereins Opferperspektive. „Nur 27 Prozent der Delikte, die bis zur Körperverletzung reichen, werden angezeigt“. Die Folgen sind auch in Potsdam fatal. „Alle, die von Rassismus betroffen sind, sind sehr verunsichert und machen sich große Sorgen um ihre Sicherheit“, so Porath. „Dazu gehören Geflüchtete, Deutschen mit einer Migrationsgeschichte, aber auch internationale Studenten und Touristinnen.“
Die Stadt und die in der Stadtverordnetenversammlung vertretenen Parteien mit Ausnahme der AfD strengen sich an, den blühenden Rassismus im Zaum zu halten. Alle Kommunalpolitiker bis auf die Fraktionsmitglieder der AfD stellten sich im vergangenen Jahr hinter die Flüchtlingspolitik von Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD), der die Initiative „Seebrücke – Schafft sichere Häfen“ unterstützt und die Aktion in Deutschland koordiniert. In Potsdam sollen zunächst fünf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus griechischen Camps aufgenommen werden – wenn die Bundesregierung sich dem nicht in den Weg stellt.
Auf die Seite der Opfer stellen
Aber wie sollte man sich verhalten, wenn man Zeuge von Rassismus wird? Gideon Botsch, Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum, plädiert dafür, sich bei einer Reaktion „immer am Opfer der Diskriminierung“ zu orientieren. Das sei etwa am Arbeitsplatz mitunter schwierig. Auf jeden Fall könnten sich Zeugen positionieren – „allein, wenn sie über bestimmte diskriminierende Witze nicht mitlachen“.
Alfred Roos leitet die Potsdamer Niederlassung der brandenburgischen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA). Er hat beobachtet, dass der alltägliche Rassismus zugenommen hat. Rechtspopulisten und Rechtsextreme „fördern das“, sie wüssten, „dass das ja alles auch im Bundestag so gesagt werde“.
Zum Beispiel von der AfD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Alice Weidel. Es war der 16. Mai 2018, als sie in den Plenarsaal rief: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.” Das macht Rassisten Mut. „Menschen mit rassistischen Einstellungen fühlen sich freier, sie zu äußern“, sagt der Potsdamer Roos. Andererseits hätten immer mehr Betroffene „den Mut, die Diskriminierungen öffentlich zu machen und zu zeigen, dass sie sich das nicht mehr gefallen lassen“.
„Wir stehen als Gesellschaft zusammen“, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach den Morden von Hanau gesagt.
Die vielen Beispiele allein aus Potsdam zeigen: Nein, das tun wir nicht.
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