Zeithistorische Forschung in Potsdam: „Auch im Osten höher als erwartet“
Der Potsdamer Zeithistoriker Frank Bösch spricht im PNN-Interview über die Folgen von NS-Belastungen in den deutschen Innenministerien nach dem Krieg, belastete Experten im Potsdam der DDR-Zeit und die überraschende Rolle des dortigen Wetterdienstes.
Herr Bösch, Sie leiten seit 2015 zusammen mit Andreas Wirsching ein Projekt zu NS-Kontinuitäten in den Innenministerien in der Bundesrepublik und DDR. Nun haben Sie das Manuskript für die abschließende Publikation dem Innenministerium übergeben. Ihr Ergebnis?
Grundsätzlich konnten wir unsere ersten Annahmen bekräftigen. So war der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Bundesinnenministerium (BMI) sehr hoch, höher als in anderen Ministerien. Um 1960 gab es unter den leitenden Mitarbeitern 66 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder, fast die Hälfte war in der SA. Allerdings, so ein zweiter Befund, knüpfte das BMI personell kaum an das Reichsinnenministerium an. Das überrascht auch, weil das BMI-Personal vor allem von einzelnen ehemaligen Beamten des Reichsinnenministeriums ausgewählt wurde, etwa von Staatssekretär Ritter von Lex und Hans Globke, Adenauers späterer rechter Hand. Sie setzten jedoch weniger auf die alten Kollegen als auf regionale Verwaltungseliten, die allerdings oft nicht weniger belastet waren.
Wie erklärt sich das?
In den Akten finden sich dazu keine direkten Hinweise. Eine mögliche Erklärung ist, dass sie um die Belastung des eigenen Ministeriums wussten und hier keine auffälligen Kontinuitäten schaffen wollten. Zugleich wurden gezielt erfahrene Juristen aus der Verwaltung gesucht, wobei dann großzügig über die NS-Biografie hinweggesehen wurde.
Wie sah es im Osten aus?
Im Ministerium des Innern der DDR (MdI) war der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder deutlich geringer, aber doch höher als erwartet. Allerdings muss man differenzieren: Es gab eine relativ geringe NS-Belastung in Abteilungen zur Inneren Sicherheit. Dort waren zwar immerhin sieben Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder, jedoch waren diese erst zu Kriegsende in jungen Jahren eingetreten. Im Westen waren die Beitritte oft schon 1933 erfolgt. Ganz anders sah es in den sogenannten Experten-Abteilungen aus.
Was ist darunter zu verstehen?
In diesen Abteilungen fanden wir 20 bis 30 Prozent ehemalige Parteimitglieder, dort gab es auch leitende Figuren, die bereits 1933 eingetreten waren. Es handelt sich um Abteilungsleiter mit klassischem bürgerlichen Lebenslauf und Expertenkarriere. Es war typisch für die SED, dass sie in eher unpolitischen wissenschaftlichen Bereichen – etwa in der Medizin, in der nicht rasch Experten angelernt werden konnten – großzügiger mit der Vergangenheit umging. Das spielte gerade in den beiden MdI-Abteilungen eine Rolle, die in Potsdam angesiedelt waren.
Worum handelte es sich dabei?
Die MdI-Abteilung Archivwesen war seit 1955 in der Berliner Straße am Zentralarchiv der DDR angesiedelt. Hier gab es eine recht hohe NS-Kontinuität, wie unser Mitarbeiter Lutz Maeke herausfand. Linientreue SED-Mitglieder protestierten zwar gegen die leitende Rolle vieler ehemaliger bürgerlicher Kräfte. Doch auch das Institut für Archivwissenschaften blieb zunächst ähnlich organisiert wie das ehemalige Preußische Geheime Staatsarchiv. Die bürgerliche Praxis wurde tradiert, bis 1958 ein hoher SED-Funktionär die Leitung übernahm. Auch der zentrale Wetterdienst der DDR gehörte zum Innenministerium.
Wieso war Wetter eine Angelegenheit des Inneren?
Auch der Wetterdienst war ein Feld der Inneren Sicherheit. Im Zweiten Weltkrieg und auch im Kalten Krieg spielte die Wetterforschung eine große Rolle, um bei möglichen militärischen Einsätzen planen zu können. Auf dem Potsdamer Telegrafenberg saß eine große Abteilung des DDR-Wetterdienstes, schon 1950 waren das 570 Mitarbeiter. Hier lag der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder bei rund 30 Prozent, darunter sogar ehemalige Kämpfer der Legion Condor. So etwas wäre in anderen Abteilungen des DDR-Innenministeriums nicht möglich gewesen.
Wurden diese Leute dort geparkt?
Nein, das waren komfortable interessante Stellen für Experten, die oft mit Privilegien verbunden waren. Sie wurden hofiert, weil man nicht wollte, dass sie in den Westen abwandern.
Inwieweit waren solche Kontinuitäten bekannt?
Mitte der 1950er-Jahre entbrannte eine deutsch-deutsche Rivalität um die NS-Vergangenheit mit Vorwürfen aus der DDR. In den sogenannten Braunbüchern wurden auch viele BMI-Mitarbeiter angeprangert. Wenngleich Übertreibungen und einige Fehler dabei waren, konnte die DDR sich doch oft auf Archivwissen stützen, um die Vergangenheit der westdeutschen Eliten anzuklagen. Im Westen musste man sich notgedrungen damit auseinandersetzen. In einigen Ministerien gab es Skandale und Rücktritte, am BMI nicht. Hier gab es interne Überprüfungen, aber selbst aufgedeckte falsche Personalangaben führten nicht zur Entlassung. Im Westen suchte man dann ebenfalls nach NS-Belastungen im Osten. Dort wiederum fanden permanent Überprüfungen der eigenen Leute statt, es gab auch einige Entlassungen. Das passierte aber heimlich. Die DDR wollte auf keinen Fall NS-Verbindungen leitender Mitarbeiter im Sicherheitsbereich eingestehen.
Wie kam man mit solch einer Vergangenheit überhaupt in solche Positionen?
In Ost und West war entscheidend, ob man in der Besatzungszeit nach 1945 bereits den Fuß in die Tür bekommen hatte. Wer unter den Augen der Sowjets oder bei den Amerikanern und Briten bereits eine Position in der Verwaltung erlangt hatte, galt quasi als überprüft. Allerdings blieben diese Überprüfungen gerade im Westen oft oberflächlich: Abgefragt wurde vor allem die NSDAP-Mitgliedschaft und dabei wurde mitunter gemogelt. Eine systematische Überprüfung der tatsächlichen Handlungen fand nicht statt. Im Osten hingegen wurde allerdings in den 1950er-Jahren immer wieder nach Widersprüchen in den Biografien gesucht.
Wie kam es dennoch zu Kontinuitäten?
Es gab im Westen Zehntausende Bewerber, die kaum zu kontrollieren waren. Fast alle hatten entlastende Empfehlungsschreiben. Deshalb spielten im Westen Seilschaften und Netzwerke eine zentrale Rolle. Es ging um mündlich belegtes Vertrauen. Wer angab, trotz Partei-Mitgliedschaft innerlich Widerstand geleistet zu haben, hatte bereits Chancen. Im Westen wurde zudem auch sehr stark auf Verwaltungserfahrung und eine juristische Ausbildung gesetzt. Im Osten hingegen ging die oberste Leitung an alte Kommunisten ohne Verwaltungserfahrung und für die mittlere Leitungsebene wurden oft junge Kräfte angelernt. Dieses Gegenmodell zeigte, dass es möglich war, die innere Sicherheit auch ohne erfahrenes Personal aufzubauen.
Was macht Ihren Befund so heikel?
Die Innenministerien waren in Ost und West für Bereiche zuständig, die nach dem Nationalsozialismus besonders sensible Felder waren: Dazu zählten die Innere Sicherheit, der öffentliche Dienst und die Migration, aber auch die Gesundheits- und Sozialpolitik, die damals noch im BMI war. Das waren gerade nach der NS-Zeit besonders heikle Themen. Dennoch wurde etwa das Referat für jüdische Belange mit einem ehemaligen NSDAP- Mitglied besetzt, der dann die zentralen Verhandlungen mit den jüdischen Gemeinden zu führen hatte.
Welche Auswirkungen hatten die Kontinuitäten für die beiden deutschen Staaten?
Die westdeutschen BMI-Beamten orientierten sich stark am Schutz des Staates, weniger am Schutz demokratischer Regeln. Ihre nationalsozialistische Prägung führte dazu, dass mit Opfern des Nationalsozialismus wenig sensibel umgegangen wurde, sondern eher formaljuristisch. So versuchten BMI-Beamte, aus Israel zurückkehrende Juden auszuweisen oder Gespräche mit jüdischen Gruppen abzulehnen. In der DDR ermöglichte die Kontinuität in Experten-Abteilungen, dass Fachwissen und traditionelle Arbeitsformen einige Zeit noch bewahrt wurden. Im Archivbereich war das durchaus eine gewisse Machtstellung, weshalb es ab 1958 unter eine strengere kommunistische Führung rückte.
Wie ging das weiter?
Um 1960 wurde im Rahmen der NS-Prozesse die Vergangenheit stärker thematisiert, etwa im Zuge des Eichmann-Prozesses. Es kam zu den ersten Rücktritten von Ministern, als Erster musste Vertriebenenminister Theodor Oberländer (CDU) nach einer Kampagne der DDR seinen Hut nehmen. Es gab Überprüfungen und Versetzungen, etwa beim Verfassungsschutz und BND – im Innenministerium allerdings nicht. Selbst Falschangaben hatten dort keine nachhaltigen Konsequenzen.
Wie war das möglich?
Um 1960 waren alle Abteilungsleiter im BMI ehemalige Parteimitglieder. Das förderte das Verständnis für Personalkontinuitäten und frühere regimekonforme Handlungen. Der damalige Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) war beispielsweise gleich zwei Mal in die NSDAP eingetreten gewesen, 1931 und 1933. Erst später mit dem Antritt von Hans-Dietrich Genscher (FDP) als Innenminister kamen zahlreiche neue junge Mitarbeiter in das Ministerium, die die Zusammensetzung veränderten.
Sie haben nun auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Ost und West in der Verwaltungskultur genauer betrachtet. Mit welchem Ergebnis?
Insgesamt dominieren Gegensätze. Im Westen dominierte das Selbstverständnis des unpolitischen Verwaltungsexperten – das war nach 1945 eine zentrale Entlastungsstrategie. Im Osten dagegen verstand sich die Führungselite als Berufsrevolutionäre. Allerdings gibt es einzelne Ähnlichkeiten. Auch im ostdeutschen Innenministerium gab es ja Abteilungen, die sich als unpolitische Experten ausgaben. Denkbar unterschiedlich waren die Umgangsformen. Das DDR-Innenministerium war ein militärisch geprägtes Haus. Hier kamen viele mit Uniform zum Dienst, es wurde mit Befehlen kommuniziert. Das war in Bonn ziviler.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
ZUR PERSON: Frank Bösch (47) ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung und Professor an der Universität Potsdam. Er untersucht seit 2015 NS-Kontinuitäten an den Innenministerien.
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