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Der Historiker Manfred Görtemaker untersucht die NS-Belastung im Bundesjustizministerium der Nachkriegszeit. Sie war hoch. Warum das die Demokratisierung nicht behinderte, wird nun von Kollegen gefragt
Die wichtigste Frage ist noch offen. Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das Bundesjustizministerium (BMJ) in seiner Gründungsphase nach 1949 stark von Mitarbeitern durchsetzt war, die zuvor im Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten. Doch wie ist es zu erklären, dass gleichzeitig die Demokratisierung in Westdeutschland ungehindert vorankam? Görtemaker, der seit 2012 zusammen mit dem Juristen Christoph Safferling (Uni Marburg) eine unabhängige Kommission leitet, die im Auftrag des BMJ die NS-Belastung des Ministeriums in der Nachkriegszeit untersucht, sieht darin einen der zentralen Aspekte, die noch zu klären sind.
Das Zwischenergebnis der Kommission ist frappierend: In den 1950er Jahren war der Anteil einschlägig vorbelasteter Abteilungsleiter bereits sehr hoch, doch in den 60er Jahren stieg die Zahl belasteter Leitungspersonen auf nahezu 100 Prozent. Die Frage, warum das so war, obwohl die beiden Gründungsväter des Bundesjustizministeriums, das 1949 aus dem Reichsministerium der Justiz hervorging, Thomas Dehler und Walter Strauß, unbelastet und selbst NS-Verfolgte waren, ist einfach zu beantworten: Man brauchte Juristen, die wussten, wie der Justizapparat funktionierte und wie Gesetze gemacht wurden. Dabei sei die Vergangenheit der Bewerber zwar immer auch ein Thema gewesen, so Görtemaker, der Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam ist. Aber: „Im Zweifelsfall entschied man sich zumeist für den Sachkenner und stellte die Vergangenheit hintan.“ Unbelastete oder Remigranten seien dagegen gar nicht erst ausdrücklich gesucht worden.
Auf Einladung des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam präsentierte Görtemaker vergangene Woche aktuelle Zwischenergebnisse der Kommission. 2016 soll das abschließende Gutachten erscheinen. ZZF-Direktor Martin Sabrow war es, den die Frage umtrieb, wie trotz der Durchsetzung des Justizapparates mit NS-Juristen die Demokratie in der Bundesrepublik Fuß fassen, wie der Rechtsstaat sich ungehindert etablieren konnte. Görtemaker hat zumindest eine These dazu: Es könne sein, dass die Wirkung von Elitenkontinuitäten bisher falsch eingeschätzt worden sei und dass Personen mit NS-Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland von den neuen Milieus stärker verändert wurden als bisher angenommen – aller Monstrosität ihrer Taten in der NS-Zeit und im Holocaust zum Trotz. 1945 habe auch für die Täter einen Bruch bedeutet, manche hätten dazu gelernt oder seien durch ihr gewandeltes Umfeld neu gepolt worden. Andererseits lasse sich feststellen, dass vielen Betroffenen auch weiterhin jegliches Schuldgefühl fehlte: „Juristen, die im Dritten Reich tätig waren, hatten häufig kein Unrechtsbewusstsein, weil sie sich keiner persönlichen Schuld bewusst waren“, sagte Görtemaker. Zu solchen Fragen würden die BMJ-Akten allerdings wenig aussagen. Hier sei weitere Forschungsarbeit nötig.
Fest steht für Görtemaker hingegen der Befund einer starken NS-Belastung des Bundesjustizministeriums, das in seinen Anfangsjahren in der Bonner Rosenburg beheimatet war. Dies gilt aber auch über das Ministerium hinaus: Viele NS-Staatsanwälte, die Todesurteile beantragten, und Richter, die Todesurteile fällten, seien in der jungen Bundesrepublik wieder in wichtige Positionen gelangt. Kein Richter und kein Staatsanwalt sei jemals von einem Gericht der Bundesrepublik Deutschland wegen möglicher strafbarer Handlungen, die während des „Dritten Reiches“ im Amt verübt worden waren, verurteilt worden, so Görtemaker. Eine Ausnahme bildete nur der Nürnberger Juristenprozess 1947, in dem zumindest der Versuch einer strafrechtlichen Aufarbeitung unternommen wurde. Dieser Prozess wurde allerdings von den Alliierten geführt.
In der Bundesrepublik überwogen dagegen nach 1949 die Kontinuitäten und Seilschaften: „Man schützte und förderte sich gegenseitig.“ Görtemaker nannte dafür zahlreiche Beispiele. Die Kommission will kein Blatt vor den Mund nehmen, sie wird Ross und Reiter benennen. Dass bereits einige Versuche unternommen wurden, die Akteneinsicht der Wissenschaftler zu begrenzen, ficht den renommierten Historiker nicht an. Die Kommission weiß den Apparat des BMJ hinter sich, der bisher alle Anwürfe abschmetterte. Immerhin hatte die frühere Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) selbst den Auftrag zu der Untersuchung gegeben.
Ein exemplarischer Fall ist Eduard Dreher, der durch seinen Kommentar zum Strafgesetzbuch in der Bundesrepublik bekannt wurde. Dreher hatte nach den Erkenntnissen der Historiker seit 1940 als Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck auch Todesurteile zu verantworten. Bekannt sei Dreher dafür geworden, dass er selbst für Bagatelldelikte sehr harte Strafen gefordert habe. Bislang ging man von drei Todesurteilen aus. Mitglieder der Görtemaker-Kommission haben nun in Innsbruck recherchiert. Mit überraschendem Ergebnis: „Dreher war nach unseren Erkenntnissen nicht an drei, sondern an sehr viel mehr Todesurteilen beteiligt“, sagte Görtemaker.
Nach dem Krieg saß Eduard Dreher bereits 1951 wieder im Bundesjustizministerium. Er wurde hoher Ministerialbeamter und stieg in den 1960er Jahren zu einem der einflussreichsten westdeutschen Strafrechtler auf. Dreher arbeitete unter anderem auch an einem Gesetz, das die Verjährung von Beihilfestraftaten – also auch Hinrichtungen auf Befehl und im Staatsauftrag – schon nach 15 Jahren vorsah. Offiziell sprach die damalige Bundesregierung nach der Verabschiedung des Gesetzes 1968 von einer Panne, doch die Staatsanwaltschaften mussten die Ermittlungen einstellen.
Interessant dürfte in diesem Zusammenhang auch die Frage sein, welchen Einfluss die Seilschaften ehemaliger NS-Juristen auf die Gesetzgebung nahmen. Schließlich waren einige der NS-Größen, wie etwa Heydrichs Stellvertreter Werner Best, nach dem Krieg bemüht, die Strafverfolgung von NS-Tätern zu erschweren. Best arbeitete in der Rechtsanwaltskanzlei von Ernst Achenbach, selbst ehemaliges NSDAP-Mitglied und nach dem Krieg für die FDP Abgeordneter im Deutschen Bundestag. „Nicht nur im Bundesjustizministerium, sondern auch am Bundesgerichtshof und im Bundestag machten ehemalige NS-Juristen ihren Einfluss geltend“, so Görtemakers Fazit.
Dass man sich gegenseitig half, zeigt das Beispiel von Hans Gawlik. Das ehemalige NSDAP-Mitglied war als Staatsanwalt am Sondergericht Breslau nach Recherchen der Historiker in der NS-Zeit an zahlreichen Todesurteilen beteiligt. Nach dem Krieg war er zunächst Verteidiger des SD des Reichsführers-SS und einiger Einsatzgruppenführer in den Nürnberger Prozessen. Nach 1949 leitete er die Zentrale Rechtsschutzstelle im Bundesjustizministerium, die Deutsche im Ausland, die wegen ihrer Tätigkeit in der NS-Zeit von Strafverfolgung bedroht waren, „rechtlich“ betreute. „Dies bedeutet, dass er sie vor einer möglichen Verhaftung warnen konnte“, so Görtemaker.
Letztlich ergibt sich somit ein ambivalentes Bild: Einerseits unterwanderten ehemalige NS-Juristen den Justizapparat der jungen Bundesrepublik und schützten sich dabei gegenseitig. Andererseits entstand ein Rechtsstaat, der von Anfang an gut funktionierte. Bei der Frage, wie sich dieser Widerspruch erklären lässt, bleibt noch viel Raum für die historische Forschung. Görtemaker kündigt deshalb bereits heute zahlreiche Bände an, die den Abschlussbericht der BMJ-Kommission ergänzen werden.
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