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20. April 2011: Grüne und SPD einigen sich nach wochenlangem Tauziehen auf einen Volksentscheid über das Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21. Der designierte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne, l.) sagt, die künftigen Koalitionspartner hätten sich auf eine gemeinsame Haltung verständigt. "Dazu befürworten beide Parteien die Durchführung einer Volksabstimmung." SPD-Landeschef Nils Schmid (r.) spricht von einem "Durchbruch".
© dapd

Grün-Rot: Das Volk soll über Stuttgart 21 entscheiden

Die Ausgangsbedingungen der Verhandlungen über Stuttgart 21 waren denkbar schwierig. Die SPD befürwortet das Projekt, die Grünen lehnen es ab. Das Volk soll nun über Stuttgart 21 befinden. Was bedeutet das für Grün-Rot? Eine Analyse.

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Von Stolperstein und Knackpunkt war die Rede. Nichts geringeres stand auf dem Spiel als das Scheitern der ersten grün-roten Landesregierung in Deutschland – noch bevor sie nach der bahnbrechenden Landtagswahl vom 20. März überhaupt installiert war. In Baden-Württemberg hatten sich die designierten Koalitionspartner in das strittige Thema Stuttgart 21 verbissen. Am Mittwochabend präsentierten Grüne und SPD nach einem zähen Gespräch den Kompromiss, mit dem beide das Gesicht zu wahren und das Bündnis zu retten versuchen.

Mit welcher Ausgangsposition gingen Grüne und SPD in das Treffen?

Die Grünen lehnen das mehr als vier Milliarden Euro teure Verkehrs- und Städtebauprojekt, dessen Kern der Umbau des Hauptbahnhofs zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhofs ist, rundweg ab. Die SPD hielt – unmittelbar vor der Wahl allerdings halbherzig – an dem Projekt fest und bestand auf einer Volksabstimmung darüber. Sie nahm damit eine ursprüngliche Forderung der Grünen auf. Plötzlich stellten aber die Grünen fest, dass schon das Erreichen des nötigen Quorums von einem Drittel der Wahlberechtigten illusorisch sein könnte. Diese Aussicht schreckte sie auf – denn dann, und darauf beharrte die SPD, würde weitergebaut. Also versuchte Grünen-Spitzenmann Winfried Kretschmann, Verbündete zu gewinnen, um über eine Verfassungsänderung das Quorum zu senken. Das kam zunächst bei der SPD nicht gut an – und bei der CDU, deren Stimmen ebenfalls nötig gewesen wären, erst recht nicht, weil man sich nicht für das Gelingen einer grün-roten Koalition instrumentalisieren lassen wollte. Sowohl Grünen als auch SPD war aber klar, dass ohne eine Einigung über eine Volksabstimmung weitere Koalitionsverhandlungen blockiert wären.

Worauf haben sich beide Parteien geeinigt?

Als Winfried Kretschmann und SPD-Landeschef Nils Schmid am Abend ihr Ergebnis präsentieren, ist ihnen anzusehen, dass das Gespräch anstrengend war. Kretschmann sagt mit brüchiger Stimme: „Die Koalition stand nicht auf der Kippe, es war klar, dass es schwierig wird.“ Aber Stress und Streit hätten sich gelohnt. Die dritte Runde zum Thema Stuttgarter Bahnhof hatte den Durchbruch gebracht, weil der Stuttgarter Stadtrat Werner Wölfle (Grüne) und der ehemalige S-21-Sprecher Wolfgang Drexler (SPD) gemeinsam am Morgen die Lösung gefunden hatten. Und die sieht so aus: Zunächst wartet man den Stresstest ab. Für beide Parteien gilt anschließend: Was immer die Simulation bringt, das Land wird sich an Mehrkosten, die über die derzeit vereinbarten 4,5 Milliarden Euro hinausgehen, nicht beteiligen. Der noch immer rechtsgültige Vertrag sieht jedoch mehr Flexibilität vor. Er enthält eine „Sprechklausel“, die bedeutet, dass die Projektpartner über die Mehrfinanzierung sprechen – von einem kategorischen Rückzug ist dort nicht die Rede.

Zweiter Punkt im Koalitionsvertrag ist die Volksabstimmung. Sie soll spätestens im Oktober stattfinden, aber lediglich den Stuttgarter Bahnhof betreffen und nicht die Neubaustrecke nach Ulm.

Dritter Punkt: Die beiden Parteien halten an zwar umstrittenen, aber juristisch korrekten Verfahren fest. Wenn der Volksentscheid zugunsten von Stuttgart 21 ausfalle, dann, so Kretschmann, „werden wir uns dran halten“. Vorher allerdings will man doch noch versuchen, das Quorum zu senken. Es werde eine Gesetzesinitiative gestartet mit dem Ziel, die Mindestbeteiligung von 33 Prozent der Wahlberechtigten an einer Volksabstimmung zu reduzieren. 25 Prozent hatte sogar die CDU im vergangenen Jahr vorgeschlagen, das war Grünen und SPD aber zu wenig, deshalb lehnten sie ab. 20 Prozent bot einst die FDP, die Grünen hingegen fordern nach wie vor gar kein Quorum, also null Prozent. Ob sich die schwarz-gelbe Opposition zur künftigen grün-roten Regierung hin bewegt, wird sich zeigen. Tut sie es allerdings nicht, gibt es keine Verfassungsänderung. Dann akzeptieren die Grünen aber, dass der Volksentscheid nach bisheriger Gesetzeslage durchgeführt wird – und sie riskieren, ihn zu verlieren.

Die grün-rote Koalition hat also den Streit um ihren wichtigsten Dissenspunkt erst einmal verschoben. Der kommt aber erneut auf den Tisch, fürchtet Nils Schmid, „wenn die bestehende demokratische Legitimation im Landtag überrollt wird vom Volksentscheid“. Denn nach wie vor stehen drei Viertel der Abgeordneten hinter dem Bahnprojekt.

Wie verhält sich die Bahn im Streit um das Milliardenprojekt?

Die Deutsche Bahn war zuletzt bemüht, jeden weiteren Krach über Stuttgart 21 zu vermeiden. Daher rief sie kurz nach der Landtagswahl den Baustopp aus – man werde „keine neuen Fakten schaffen“, versprach Technikvorstand Volker Kefer. Daran hat sich der Konzern gehalten. Doch die Absicht der Manager, den Bahnhof unter die Erde zu verlegen, ist ungebrochen. „Stuttgart 21 kommt mit hundertprozentiger Sicherheit“, hatte Bahn-Chef Rüdiger Grube kürzlich erklärt. „Vertrag ist Vertrag.“

Dass die Bahn selbst wegen ausufernder Kosten aussteigt, ist nicht zu erwarten. Im übrigen sind Kostensteigerungen wie bei jedem Großprojekt auch hier wahrscheinlich. Dass das Limit von rund 4,5 Milliarden Euro, das sich die Bahn gesetzt hat, eingehalten wird, glauben selbst im Konzern nur wenige. Ein internes Papier, das kürzlich bekannt wurde, beziffert die Baurisiken auf noch einmal schlimmstenfalls 1,3 Milliarden Euro. Der Stresstest dürfte ohnehin Zusatzkosten bedeuten. Doch auch ein Ausstieg käme teuer. Es sei die Pflicht des Managements, in diesem Fall von den Partnern Schadenersatz zu fordern, sagt Grube. Auf 1,5 Milliarden Euro beziffert er den dann fälligen Betrag. Schon jetzt kostet jede Woche des Baustopps rund 15 Millionen.

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