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Eine Frau in Schwerin beim Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen
© Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

Es braucht Raum für Rede und Widerrede: Zweifler an den Corona-Maßnahmen sind noch keine Verschwörungstheoretiker

Wenn die Zustimmung der Bevölkerung zu den Corona-Einschränkungen nicht sinken soll, muss es Raum für Rede und Widerrede geben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Hat sich die Bundesregierung anstecken lassen? Oder warum lässt sie zu, dass in weiten Teilen der Entscheiderszene jeder Zweifler in der Coronakrise gleich als Verschwörungstheoretiker gilt? Ist es, weil die Verantwortlichen in der Exekutive sich selbst fühlen wie in einer Nussschale im Ozean der Vermutungen, von den Wellen hin- und hergeworfen? 

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Denn es ist schon auch so: Unter denen, die sich sorgen, dass nicht das Richtige getan wird, sind Namen von Rang.

Nicht nur Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Der bisherige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, der Theologieprofessor Peter Dabrock, sagt etwa, das Gremium habe ja schon darauf hingewiesen, dass dem Schutz des menschlichen Lebens nicht alles untergeordnet werden dürfe. Lebenslänge stehe nicht grundsätzlich über Lebensqualität.

„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, sagte Schäuble im Tagesspiegel-Interview.
„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, sagte Schäuble im Tagesspiegel-Interview.
© imago images/Günther Ortmann

Kritisch ist auch Julian Nida-Rümelin, ebenfalls Professor, einstimmig neu gewählt in den Ethikrat. Seine Spezialgebiete sind Entscheidungs- und Rationalitätstheorie, theoretische und angewandte Ethik, studiert hat er außerdem Mathematik und Physik. Nida-Rümelin bezweifelt die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und auch die Berechnungen, die gegenwärtig ins Feld geführt werden.

So wie, sehr ausführlich, sehr detailliert, Christof Kuhbandner, Psychologieprofessor aus Regensburg. Oder der Essener katholische Bischof Franz-Josef Overbeck, der sich mit der Angemessenheit auseinandersetzt. Oder, oder, oder.

Prüfen, was zumutbar ist

Bei allen diesen Äußerungen geht es nicht einfach und vordergründig um Lockerungen, sondern um die gouvernementale Haltung. Dass „im Zweifel für den Zweifel“ eine Haltung in Staat und Gesellschaft sein sollte, um demgemäß zu prüfen, was erforderlich, angemessen, verhältnismäßig und damit zumutbar ist, lässt sich inzwischen auch bei Verfassungsrichtern nachlesen.

So denen des Saarlandes. Durch deren jüngstes Urteil sehen sich Zweifler gestärkt – weil das Gericht selbst Zweifel anmeldet.

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Denn, Beispiel: „Insgesamt kann in ganz Deutschland die befürchtete exponentielle Ausbreitung der Corona-Infektionen nicht festgestellt werden.“ Oder: „Der Verlust des Grundrechts der Freiheit der Person ist Tag für Tag der Freiheitsbeschränkung ein endgültiger Nachteil. Er kann für die verstreichende Zeit nicht wieder ausgeglichen werden.“

Das ganze Urteil ist bemerkenswert, lesenswert, zugleich abwägend und fragend. Wie hier: Warum dürfen sich Bruder und Schwester in gebührendem Abstand im Baumarkt treffen, aber nicht zu Hause?

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Die Zahl derer wächst, die sich in der Tiefe mit den Zahlen beschäftigen, die die Politik ihren Entscheidungen zu Grunde legt, darunter das Zustandekommen von „R“, dem Reproduktionsfaktor. Hier muss Raum für Rede und Widerrede gegeben werden, wenn die Zustimmung der Bevölkerung zu getroffenen Maßnahmen nicht in kommender Zeit exponentiell sinken soll. Die Verfassungsrichter verweisen zu Recht auf die immer wichtiger werdende Erklärung aller Einschränkungen.

Zumal bereits mehr als zehn Millionen Menschen in Kurzarbeit sind. Damit wurden alle Prognosen bei Weitem übertroffen, alle Kalkulationen über die Auswirkungen waren falsch. Hunderttausende wurden zusätzlich arbeitslos. Was bedeutet: Die Wirtschaftskrise könnte noch viel heftiger werden als bisher geschätzt. Schon gibt es Stimmen, die sagen: Das Virus ist momentan nicht so schlimm wie gedacht, die Auswirkungen aber sind viel schlimmer.

Zweifel können weiterbringen

Hinzu kommt: Es ist nicht angemessen, den Schutz des einen Lebens dem Schutz eines anderen vorzuziehen. Denn eine nachhaltige wirtschaftliche Schädigung hat natürlich Konsequenzen auch für die Qualität des Gesundheitssystems. Ein ärmeres Deutschland bekommt ein schlechteres Gesundheitssystem. Den Preis dafür zahlen die Kranken von morgen. So argumentiert einer, der im Übrigen aufseiten derer steht, die den Schutz des Lebens absolut stellen: Sigmar Gabriel, der frühere Vizekanzler.

Es ist, wie er erklärt: „Deshalb muss Politik, die mit dem Schutz des individuellen Lebens argumentiert, ALLE Leben im Blick haben: das der von der Corona-Pandemie bedrohten ebenso wie das derjenigen, die zur Zeit keine Behandlung im Krankenhaus bekommen – oder morgen auf ein weniger leistungsfähiges Gesundheitssystem stoßen, weil Deutschland wirtschaftlich auf Jahre ruiniert wird.“ Wie das am besten vermieden wird, muss diskutiert werden dürfen. Auch streitig. Zweifel können weiterbringen. Die Zeit drängt.

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