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Die widerspenstigen Gerichte dürften sich von Staatspräsident Erdogan unterstützt fühlen.
© AFP

Justiz in der Türkei: Zwei verhinderte Freilassungen - und ein großer Zweifel

Erst sollen zwei Journalisten frei kommen, dann plötzlich nicht mehr - und es verstärkt sich abermals der Eindruck, in der Türkei geht es nicht um Recht, sondern um Rache. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Die Missachtung einer höchstrichterlichen Anordnung zur Freilassung von zwei prominenten Regierungskritikern hat die Türkei in eine Verfassungskrise gestürzt. Wenn untergeordnete Gerichte die Anweisungen des Verfassungsgerichts nicht mehr umsetzen und von der Regierung dazu sogar noch ermuntert werden, wächst die Furcht vor einer ungehemmten Willkürherrschaft.

Das Verfassungsgericht hatte die Freilassung der Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan verfügt, die seit rund eineinhalb Jahren wegen des Vorwurfs einer Unterstützung des Putschversuchs von 2016 in Untersuchungshaft sitzen. In ihrer Begründung schrieben die Verfassungsrichter, die beiden Kolumnisten hätten in ihren Artikeln lediglich Auffassungen zum Ausdruck gebracht, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens von einem Teil der Gesellschaft geteilt worden seien. Diese Argumentation könnte als Vorlage für die Freilassung von Deniz Yücel und rund 150 weiteren Betroffenen dienen.

Von wegen Annäherung! Die Türkei driftet weg von der EU

Doch daraus wird möglicherweise nichts. Die anfängliche Zuversicht zerschlug sich nach dem Nein der Istanbuler Schwurgerichte zur Freilassung. Möglicherweise fühlen sich die Istanbuler Richter von Präsident Erdogan selbst ermuntert. Er hatte nach einer ähnlichen Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Freilassung des Oppositionsjournalisten Can Dündar vor knapp zwei Jahren die untergeordneten Gerichte zum Widerstand gegen das Verfassungsgericht aufgerufen. Dündar war damals aus der Türkei geflohen und lebt heute in Berlin. Der frühere US-Botschafter in Ankara, John Bass, sagte vor seinem Abschied 2017, er habe den Eindruck, dass es einigen Akteuren in der Türkei nicht um Gerechtigkeit gehe, sondern um Rache. Der Streit um Alpay und Altan verstärkt dieses Bild. Statt sich wieder an Europa anzunähern, wie es Erdogans Regierung seit dem Jahreswechsel ankündigt, entfernt sich die Türkei immer weiter von den Normen der EU.

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