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Emmanuel Macron und Angela Merkel
© dpa/Oliver Berg

Merkel und Macron: Zwei und der Rest der Welt

Der Vertrag von Aachen wurde als deutsch-französische Gemeinsamkeit gelobt. Doch außenpolitisch passen die beiden Länder kaum zusammen. Ein Gastbeitrag.

Vor dem Hintergrund des in Aachen erneuerten deutsch-französischen Freundschaftsvertrags ist es ganz interessant, auf die Unterschiede zu schauen zwischen der Beurteilung des binationalen Verhältnisses, als 1963 der Élysée-Vertrag zustande kam, und der heutigen Wahrnehmung des so oft als „Motor der europäischen Einigung“ gelobten deutsch- französischen Tandems.

Im Zentrum des Aachener Vertrags steht die Idee einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die ist nicht neu. Sie wurde bereits 1950, nur fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zwischen Frankreich und Deutschland diskutiert. Es waren vor allem die USA, die vor dem Hintergrund des Koreakriegs darauf drängten, dass West-Deutschland in ein gemeinsames europäisches Verteidigungsnetz eingebunden werden soll. Der sogenannte Pleven-Plan scheiterte schließlich am französischen Parlament – man fürchtete eine zu große Abhängigkeit von den USA.

Hier die Frankreich-Fans und Neo-Gaullisten, da die Transatlantiker

Der französische Präsident Charles de Gaulle sah im Élysée-Vertrag in Deutschland einen Wegbereiter einer stärkeren Unabhängigkeit der Westeuropäer von den USA. Er fürchtete, sie könnten zu Vasallenstaaten der Nordamerikaner werden. Im Élysée-Vertrag kamen deshalb Beziehungen zu den USA, zu Großbritannien, zur Nato oder zu anderen wichtigen internationalen Abkommen gar nicht vor.

Das blieb den Vereinigten Staaten natürlich nicht verborgen, sodass auf Druck des US-Präsidenten John F. Kennedy der deutsche Bundestag den Élysée-Vertrag mit einer Präambel versah, die Frankreich und die Bundesrepublik zu einer engen Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien aufforderte.

Das wiederum machte die Idee de Gaulles zunichte, ein Gegengewicht zu den USA zu bauen – und es kam zu Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland. „Die Deutschen benehmen sich wie Schweine. Sie unterwerfen sich völlig der Herrschaft der Amerikaner. Sie verraten den Geist des französisch-deutschen Abkommens. Und sie betrügen Europa“, hat de Gaulle getobt. So jedenfalls wird es mit Verweis auf dessen Biografen Alain Peyrefitte zitiert. Später nannte der das Verhalten der Deutschen seine „größte Enttäuschung“.

Die heutige Debatte um eine „strategische Autonomie“ Europas stammt aus dem politischen Arsenal des Gaullismus und ist auch dem heutigen französischen Präsidenten Emmanuel Macron nicht fremd. Deutschland und am Ende auch die Europäische Union von den USA fernzuhalten, ist bis heute der Plan – und der zeigte sich nicht nur in der nuklearen Bewaffnung Frankreichs (force de frappe), sondern warf auch damals schon seine Schatten über den Élysée-Vertrag.

Frankreich und Deutschland haben außenpolitisch sehr unterschiedliche Interessen

Die Saat des Zweifels an den Deutschen aufseiten de Gaulles und in Frankreich konnte durch das historisch schier Unglaubliche – Frieden schließen mit dem „Erbfeind Deutschland“ – allerdings medial überdeckt werden. Wenn wir heute den Aachener Vertrag feiern, sollten wir nicht übersehen, dass er einer politischen Strategie folgt, die der traditionellen Balance Deutschlands – Freundschaft mit Frankreich und zugleich transatlantische Bindung zu den USA und dem Vereinigten Königreich – entgegensteht.

Dies bedeutet nicht, dass der Élysée-Vertrag oder der Aachener Vertrag grundsätzlich falsch sind. Aber unter Umständen könnte sich der deutsche Idealismus „Wir schaffen das, gemeinsam“ als ein Pyrrhussieg für das europäische Projekt ebenso wie für die grundlegende euro-atlantische Ausrichtung der deutschen Außenpolitik herausstellen.

Frankreich und Deutschland haben deutliche Unterschiede in ihrer Sicht auf die Welt. Während in Deutschland die Einbindung in eine liberale Weltordnung und ein westliches Bündnis Staatsräson ist, ist die französische Außenpolitik viel stärker von eigenen Interessen geleitet. Der Aachener Vertrag übergeht diese Unterschiede durch Wohlwollen.

Hinzu kommt das Problem der Signalwirkung. Inhaltlich ist der Aachener Vertrag ein Kunstwerk der Absichtserklärungen. Um zu dem Schluss zu kommen, dass der Vertrag letztlich neuer Wein im alten Schlauch ist, gewürzt mit Buzzwörtern der Gegenwart, muss man den Text allerdings lesen.

Wer darauf als Pole, Italiener, Grieche, Schweizer oder Spanier verzichtet, könnte denken: „Da machen die, die am lautesten den Multilateralismus feiern, ein bilaterales Projekt. Das machen die, um ihre EU zu retten, die wir so nicht wollen. Ein bilaterales Abkommen, um die EU zu retten. Wie ist das noch mit der Souveränität und Gleichheit aller Europäer?“

Macron und Merkel bei der Unterzeichnung des Aachener Vertrags.
Macron und Merkel bei der Unterzeichnung des Aachener Vertrags.
© Ludovic Marin/AFP

Wenn der Élysée-Vertrag von 1963 die „Erbfeindschaft“ Deutschlands und Frankreichs beendet hat, müssen die beiden Länder heute darüber hinausgehen. Heute geht es um die innere Spaltung der Europäischen Union: in der Finanz- und in der Wirtschaftspolitik zwischen Nord und Süd (und übrigens auch zwischen Deutschland und Frankreich). In Fragen der Rechtsstaatlichkeit zwischen Ost und West und in Fragen der Bekämpfung von Korruption, Organisierter Kriminalität und schlechter Regierungsführung zwischen Nordwest und Südost.

Frankreich könnte in Großbritanniens Austritt auch Vorteile sehen

Doch genau diese Perspektive auf die gemeinsamen Aufgaben Frankreichs und Deutschlands, um die Europäische Union zusammenzuhalten, fehlt dem Aachener Vertrag. Dass es auf Deutschland und Frankreich ankommen wird, wenn Europa zusammengehalten werden soll, ist eine Binse. Trotzdem müssen beide Länder sorgsam und sensibel mit den anderen europäischen Nachbarstaaten umgehen, die schnell den Eindruck gewinnen könnten, sie seien nur zur Gefolgschaft aufgefordert. Frankreichs Rolle ist dabei eine andere als die Deutschlands.

Während Deutschland sich – hoffentlich – sehr darum bemüht, den Austritt Großbritanniens aus der EU doch noch abzuwenden, dürfte Frankreich in diesem Austritt auch Vorteile sehen, denn seine Bedeutung würde politisch, wirtschaftlich und militärisch wachsen.

Deutschland dagegen muss ein Interesse haben, die Kräfte in Europa im Gleichgewicht zu halten. Und mit Blick auf die Welt wäre im Übrigen auch ein stärker „französisches Europa“ schwächer. Schon heute gilt die Europäische Union trotz nuklearer Bewaffnung zweier Mitgliedstaaten als reich, aber global gesehen politisch bedeutungslos.

In der Welt der geopolitischen Fleischfresser sind wir die letzten Vegetarier. Ohne die Briten würden wir nur noch als Veganer gelten. Das lädt die anderen globalen Mächtigen ein, uns als Schachbrettfiguren in ihrem Spiel zu betrachten.

Es geht längst um europäische Souveränität. Darum, ob wir in der Welt von morgen noch so leben können, wie wir leben wollen. Frankreich und Deutschland müssen sich diesem Ziel verschreiben.

Insofern ist die deutsch-französische Freundschaft wichtig, aber längst nicht mehr genug.

Sigmar Gabriel war Vorsitzender der SPD und mehrfach Bundesminister und ist Autor des Tagesspiegels.

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