Beerdigung von Gezi-Opfer in Türkei: Zwei Tote nach heftigen Straßenkämpfen
Eine Trauerfeier für das jüngste Opfer der Gezi-Unruhen ist in einen Massenprotest gegen die Regierung Erdogan gemündet. In mehreren Städten der Türkei kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei. Dabei soll es zwei Tote gegeben haben.
Die gesellschaftliche Polarisierung in der Türkei nimmt kurz vor den Kommunalwahlen Ende des Monats gefährlich zu. Eine Trauerfeier für das jüngste Opfer der Gezi-Unruhen des vergangenen Jahres geriet am Mittwoch in Istanbul zu einer Massendemonstration gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Dabei soll es Medienberichten zufolge zwei Tote gegeben haben. Wie die Nachrichtenagentur Dogan in der Nacht auf Donnerstag online meldete, erlag ein Polizist im Krankenhaus der Stadt Tunceli einem Herzinfarkt. Er wurde demnach eingeliefert, nachdem er einer großen Menge Tränengas ausgesetzt war. In Istanbul starb Dogan zufolge ein 22-Jähriger nach Zusammenstößen im Stadtteil Okmeydani an einer Kopfverletzung.
In Ankara und Izmir brachen bei Kundgebungen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei aus. Berichte über ein brutales Vorgehen der Polizei heizten die Stimmung weiter an: So soll ein Polizeioffizier seinen Beamten befohlen haben, mit Plastikgeschossen auf die Augen von Demonstranten zu zielen.
Der 15-jährige Berkin Elvan war im Juni vergangenen Jahres unterwegs, um Brot für seine Familie zu kaufen, als er zwischen die Fronten einer Auseinandersetzung zwischen Gezi-Demonstranten und Polizei geriet. Er wurde von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen und lag neun Monate lang im Koma, bis er am Dienstag starb.
Die Nachricht vom Tod des Jungen löste die neuen Proteste aus, weil das Schicksal des 15-Jährigen nach Ansicht vieler Regierungsgegner für die Rücksichtslosigkeit und Arroganz der Regierung steht: Bisher ist kein Polizist für den tödlichen Schuss auf Berkin zur Rechenschaft gezogen worden. Ex-Europaminister Egemen Bagis, ein treuer Erdogan-Anhänger, verhöhnte die Teilnehmer der Trauerkundgebung vom Mittwoch als „Nekrophile“.
„Nicht Allah, Tayyip Erdogan hat mir meinen Sohn genommen“, sagte Berkins Mutter Gülsüm Elvan. „Wir alle kennen den Mörder“, titelte die regierungskritische Zeitung „Karsi“. Erdogan hatte das Vorgehen der Polizei bei den Gezi-Unruhen als „Heldenepos“ gelobt.
Regierungsgegner riefen zu einer Kundgebung im Gezi-Park auf
Schock und Wut reichen weit über linke Gruppen und die muslimische Minderheit der Aleviten hinaus, der die Familie des getöteten Berkin Elvan angehört. Die Istanbuler Kundgebung für den Jungen am Mittwoch war der größte Trauerzug in der Metropole seit der Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink vor sieben Jahren. Für Mittwochabend riefen Regierungsgegner zu einer Kundgebung im Gezi-Park auf, dem Epizentrum der Unruhen des vorigen Jahres.
Nach Abschluss der Trauerfeier brachen neue Auseinandersetzungen aus; Regierungsgegner warfen der Polizei vor, ohne jede Warnung mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten vorgegangen zu sein. In Erdogans AKP hieß es dagegen, die Protestbewegung wolle das Land „terrorisieren“, um die Regierung zu stürzen.
Die neuen Spannungen verstärkten den Druck auf die türkische Lira
Wie schon bei den Gezi-Protesten seien nach Berkins Tod viele Menschen aller Altersstufen und ganz unterschiedlicher Herkunft und politischer Ausrichtung auf der Straße, sagte der Meinungsforscher Tarhan Erdem im Nachrichtensender NTV. „Sie werden geeint von der Hoffnung auf Demokratie und Mitspracherecht“. Allerdings werde das auf Regierungsseite nicht überall verstanden. Eine Verständigung zwischen den Blöcken gibt es demnach kaum. „Wir sind völlig polarisiert“, sagte Erdem.
Die neuen Spannungen verstärkten auch den Druck auf die türkische Lira, die im Vergleich zu Dollar und Euro erneut an Wert verlor. Die Zinsen für türkische Staatsanleihen kletterten auf den höchsten Stand seit mehr als vier Jahren – ein Zeichen dafür, dass viele Anleger neue Turbulenzen in der Türkei erwarten. Anzeichen dafür gibt es bereits. Ein türkisches Gericht entschied jetzt, dass Erdogans Bauprojekt im Gezi-Park – der Auslöser für die Unruhen des vergangenen Jahres – doch verwirklicht werden kann. Ein anderes Gericht hatte das Projekt zuvor gestoppt, doch nun kann Erdogan seinen Willen vielleicht doch noch durchsetzen.
Auf kurze Sicht stellt sich die Frage, wie sich die neuen Proteste auf den Ausgang der Kommunalwahlen auswirken werden, die als wichtiger Stimmungstest für Erdogan gelten. Die Oppositionspartei CHP, die wichtigste Konkurrentin von Erdogans Regierungspartei AKP bei den Wahlen, würdigte Berkin Elvan als „Märtyrer der Demokratie“. Dagegen beschimpfte Erdogan die Mitglieder der Protestbewegung am Mittwoch erneut als „Vandalen“.
Möglicherweise deuten die Reaktionen auf den Tod von Berkin Elvan eine Änderung der Stimmung im Land an. Anders als bei den Gezi-Protesten, als viele große TV-Sender vor der Regierung kuschten, indem sie nur am Rande über die Unruhen berichteten, wurde die Trauerfeier für Berkin Elvan am Mittwoch von den großen Anstalten live übertragen. Teilweise verdrängten die Bilder vom Trauermarsch sogar eine Erdogan-Rede von den Bildschirmen.