Proteste in der Türkei: Tod eines Demonstranten entfacht die Wut in Istanbul
Der 15-jährige Berkin Elvan wurde bei den Gezi-Protesten im Juni 2013 schwer verletzt, nach langem Koma ist er nun gestorben. Das heizt die Stimmung in Istanbul erneut an, in der Nacht wurden Dutzende Demonstranten festgenommen.
Berkin Elvan – dieser Name steht für die Brutalität der türkischen Polizei bei den Gezi-Unruhen des vergangenen Jahres. Elvan steht auch für die Entschlossenheit der Protestbewegung in der Türkei, den Druck auf die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu verstärken. Der 15-jährige Elvan war im Juni 2013 in Istanbul von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen und schwer verletzt worden. Nach 269 Tagen im Koma starb der Junge am frühen Dienstagmorgen. Die Nachricht von seinem Tod löste neue Proteste und Zusammenstöße in der türkischen Metropole aus.
Elvan gehörte nicht einmal zu den Demonstranten, die im Juni gegen Erdogan auf die Straße gingen. Er wollte Brot für seine Familien kaufen, als er in eine Straßenschlacht geriet. Nach Angaben der Oppositionsbewegung schoss ein Polizist aus einer Entfernung von nur 25 Metern mit einem Tränengasgewehr auf den Jungen. Diese Art von gezielten – und offiziell verbotenen – Schüssen auf Demonstranten war damals bei vielen Kundgebungen beobachtet worden.
Die Tatsache, dass ein unbeteiligter Jugendlicher von der Polizei getötet wurde, macht Elvans Schicksal zu einem Symbol für die Protestbewegung. Hinzu kommt, dass Elvans Familie zu den Aleviten gehört, einer muslimischen Minderheit, die sich von der sunnitischen Mehrheit in der Türkei diskriminiert fühlt. Das verleiht dem Fall eine Dimension, die über den Konflikt zwischen Demonstranten und Regierung hinausgeht.
Türkei: Die Zahl der Gezi-Toten steigt auf acht
Am Tag vor dem Tod des Jungen hatte sich Staatspräsident Abdullah Gül telefonisch bei der Familie nach dem Zustand des 15-Jährigen erkundigt. Mit Elvans Tod steigt die Gesamtzahl der Todesopfer bei den Gezi-Protesten auf acht: sieben Demonstranten und ein Polizist. Kein Polizist ist bisher verurteilt worden. Im Fall Elvan bestreiten alle Beamten, den tödlichen Schuss abgegeben zu haben.
Der Tod Elvans verschärft das innenpolitische Klima in der Türkei kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März. Nachdem Elvans Vater am Dienstag über Twitter den Tod seines Sohnes bekannt gegeben hatte, versammelten sich Demonstranten vor dem Istanbuler Krankenhaus, in dem der Junge gestorben war. Die gereizte Stimmung eskalierte rasch in Zusammenstößen mit der Polizei. Die Oppositionspartei CHP erklärte, dabei sei erneut ein Demonstrant von einer Tränengaskartusche im Gesicht getroffen worden.
Die türkische Polizei nahm in der Nacht zu Mittwoch Dutzende Menschen fest. In Istanbul hätten Beamte elf Demonstranten, in der Stadt Samsun 20 Protestierer in Gewahrsam genommen, berichtete die türkische Tageszeitung „Radikal“. Aus mehreren weiteren Städte sei eine größere Zahl von Festnahmen bekannt.
Der CHP-Kandidat für das Istanbuler Oberbürgermeisteramt, Mustafa Sarigül, sagte, noch größer als der Schmerz über den Verlust des Jungen sei die „Schande“ für die Türkei insgesamt: „Wir haben nicht einmal einen Jungen beschützen können, der Brot kaufen ging.“ Studentengruppen riefen einen Unterrichtsboykott aus, die Gezi-Protestbewegung trommelte ihre Anhänger zu Kundgebungen zusammen – weitere Auseinandersetzungen sind zu erwarten, auch bei der Beisetzung des Jungen an diesem Mittwoch.
Derzeit werden fast täglich Ex-Militärs und andere mutmaßliche Mitglieder der rechtsgerichteten Gruppe Ergenekon auf freien Fuß gesetzt, die wegen eines Putschversuchs gegen Erdogan hinter Gittern saßen. Erdogan will sich so die Unterstützung der Armee im Machtkampf gegen den islamischen Prediger Fethullah Gülen sichern. Auch die mutmaßlichen Mörder von drei Christen, darunter der deutsche Missionar Tilman Geske, kamen inzwischen frei.