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Entnahme eines Spenderherzens
© dpa/Bernd Wüstneck

Organspende: Debatte um die Widerspruchslösung: Jemand muss entscheiden

Die Organspende in Deutschland ist auf einem historischen Tief. Ist die Widerspruchslösung die Rettung? Zwei Experten, zwei Meinungen

Trotz eines leichten Aufwärtstrends im vergangenen Jahr hat Deutschland im europäischen Vergleich zu wenige Organspender. In vielen anderen EU-Ländern ist die Zahl deutlich höher, weil, so Experten, dort die Widerspruchslösung gilt: Jeder Mensch wird als Organspender angesehen, es sei denn, er hat zu Lebzeiten dem explizit widersprochen. In Deutschland gilt dagegen die Entscheidungslösung: Man muss ausdrücklich zustimmen, will man seine Organe spenden.

Dies könnte sich aber bald ändern. Im Frühjahr 2019 werde das Bundesgesundheitsministerium einen Gesetzentwurf für die Widerspruchsregel vorlegen, sagt die Bundespatientenbeauftragte Claudia Schmidtke. Danach werde intensiv darüber diskutiert werden. Denn es gibt auch kritische Stimmen, so wie die von Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates. Schmidtke und Dabrock diskutierten in der vergangenen Woche auf einer Veranstaltung der Schwenninger Krankenkasse in Berlin das Pro und Contra der Widerspruchslösung.

In einem ersten Schritt zur Erhöhung der Organspenden hat der Bundestag Mitte Februar ein Gesetz beschlossen, das die Organisation verbessert. Danach werden unter anderem das Identifizieren eines potenziellen Organspenders, die Organentnahme und die Betreuung der Angehörigen optimiert.

Bundespatientenbeauftragte Claudia Schmidtke
Bundespatientenbeauftragte Claudia Schmidtke
© CDU/Jan Kopetzky

Diese Strukturverbesserungen hält Schmidtke für notwendig, aber nicht für ausreichend. Denn es mangele eben auch an der Spendenbereitschaft. „Wenn tolle neue Straßen gebaut werden, aber niemand benutzt sie, was bringen sie uns dann?“ In Deutschland sterben täglich drei Menschen, weil sie vergeblich auf ein lebensrettendes Spenderorgan warten. Alle bisherigen Maßnahmen, die Zahl der Organspender zu erhöhen, seien fehlgeschlagen. Eine nachhaltige Steigerung von Spenderzahlen werde nur mit einer Kombination aus Widerspruchsregelung und Strukturverbesserungen ermöglicht.

„Die Organspende muss viel mehr als bisher zum Normalfall werden“, sagt Schmidtke. „Dazu gehört auch die Pflicht jedes Bürgers, sich zu entscheiden, ob er im Fall seines Todes mit seinen Organen eines von den 10.000 Leben retten möchte, die auf ein Organ warten.“

Dass die Bereitschaft zur Organspende gesunken ist, liegt auch daran, dass das Vertrauen der Bevölkerung in das Organspendesystem nach den Transplantationsskandalen 2012 gelitten hat. An deutschen Kliniken gab es bei der Vergabe von Spenderherzen Manipulationen, eigene Patienten wurden bevorzugt. Dieses Vertrauen gelte es zurückzugewinnen, sagte Schmidtke. Die heutige verschärfte Überwachung von Kliniken, die Organspende betreiben, mache solche Manipulationen unmöglich. „Das System ist wasserdicht.“

Die Veränderungen, aber vor allem die anhaltende öffentliche Debatte um Organspenden haben dazu geführt, dass die Bereitschaft gewachsen ist. Laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2018 ist die positive Einstellung zum Thema Organspende mit 84 Prozent so hoch wie nie zuvor. Doch nur 36 Prozent besitzen einen Spenderausweis. Diese Lücke von 48 Prozent zwischen einer positiven Haltung und der dokumentierten Zustimmung zur Organspende verlagere die Entscheidungslast auf die Angehörigen, sagt Schmidtke. Habe man sich selbst nicht zu Lebzeiten entschieden, wälze man das Thema auf diejenigen ab, die im Falle des Todes ganz andere Sorgen haben, als sich mit der Organspende auseinanderzusetzen. Mit einer Widerspruchsregelung würden die Angehörigen also entlastet.

Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates
Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates
© dpa/Lisa Ducret

Warum fällt es einem großen Teil der Bevölkerung schwer, sich festzulegen? Ist es auch die Angst davor, dass der Hirntod, die Voraussetzung dafür, dass einem Verstorbenen Organe entnommen werden dürfen, möglicherweise zu früh oder gar falsch festgestellt wird? Nach Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation gab es in den Jahren 2011 bis 2013 acht solcher Fälle, in denen nicht alle Kriterien für die Feststellung des Hirntods eingehalten worden waren. „Das System wurde aber seither erheblich verbessert“, sagt die Patientenbeauftragte. „Horrorgeschichten kann es mit dem nun geltenden Standardprotokoll nicht geben.“

Die Hirntoddiagnostik werde von zwei unabhängigen und spezialisierten Ärzten durchgeführt. Der Begriff Hirntod sei medizinisch klar als Tod definiert. „Ist die Gesamtfunktion von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm ausgefallen und wird das Hirn nicht mehr durchblutet, ist kein Leben mehr möglich“, sagt Schmidtke, die vor ihrer Ernennung zur Bundespatientenbeauftragten als Herzchirurgin tätig war. Dass Maschinen Körperfunktionen aufrechterhalten, ändere daran nichts.

Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, präsentierte sich auf der Diskussionsveranstaltung als scharfer Kritiker der Widerspruchslösung. Man solle doch erst einmal abwarten, wie die beschlossenen Strukturverbesserungen wirkten. In Ländern, die besonders viele Organspender verzeichneten, wie zum Beispiel Spanien, seien die Strukturverbesserungen die Hauptursache für die Steigerung der Organspendenzahlen gewesen, nicht die Widerspruchslösung.

Außerdem würde angesichts des schon vorhandenen Vertrauensdefizits in der Bevölkerung solch „eine Art indirekte Zwangsmaßnahme“ das Vertrauen ins Transplantationssystem weiter beschädigen. „Die Widerspruchslösung unterminiert das Prinzip der informierten Einwilligung“, sagt Dabrock. Er wählt als Beispiel die Datenschutz-Grundverordnung (DGSVO), nach der die Betroffenen einer Nutzung ihrer Daten aktiv zustimmen müssen, ansonsten ist die Verwendung der Daten nicht möglich. „Ausgerechnet bei der existenziellen Frage, wie nach dem Tod mit unserem Körper umgegangen werden soll, kann es doch nicht sein, dass man auf einmal aktiv widersprechen muss“, sagt Dabrock.

Die Situation der Angehörigen von potentiellen Organspendern, die nicht explizit der Spende zugestimmt haben, sei schwierig. Das gibt auch der Theologe Dabrock zu. „Aber um das zu ändern, brauchen wir keine Widerspruchslösung. Da reicht eine erweiterte Zustimmungslösung vollkommen aus.“ Erweitert bedeutet, dass die Angehörigen stellvertretend für den Verstorbenen über eine Organspende entscheiden, falls dieser zu Lebzeiten das nicht geregelt hat. Um informiert einwilligen zu können, sei intensive Aufklärung unumgänglich.

„Diese sollte allerdings nicht nur auf die Organspende bezogen werden, sondern auch auf den Tod an sich.“ Wann bin ich wirklich tot? Um eine informierte Entscheidung zu treffen, solle man sich immer erst damit auseinandersetzen. „Wer den Eindruck erwecken will, dass sei ein einfaches Thema, für das es eine klare Lösung gibt, macht sich und anderen etwas vor“, sagt Dabrock.

Niemand könne behaupten, ein Hirntoter sei einfach ein Leichnam. Wird der Körper nur durch maschinelle Assistenz am Leben gehalten, befindet sich der Körper in einer Homöostase, bei der alles außer dem Hirn noch funktioniere. „Tod heißt Verlust der Gesamtintegration des Körpers“, sagt Dabrock. Das sei nicht das gleiche wie Hirntod.

Der Tagesspiegel hat ein E-Magazin zum Thema Organspende zusammengestellt. Es ist kostenlos erhältlich unter www.tagesspiegel.de/organspende

Floris Kiezebrink

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