zum Hauptinhalt
Das ist ein Kreuz mit dem Kreuz.
© dpa

Demokratie in Deutschland: Zum Wählen quälen

Sachsen lehrt: Wir brauchen eine Wahlpflicht. Denn das massenweise Nichtwählen ist auch eine unterlassene Hilfeleistung für die Demokratie. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Es wirkt fast wie ein Ereignis an sich, so ernsthaft und regelmäßig wird darüber berichtet: das Wetter am Wahltag. Temperatur- und Niederschlagsangaben sind von Wahltagsberichten nicht mehr zu trennen und folgen rituell auf Angaben zur Wahlbeteiligung: Wie ist die Wahlbeteiligung? Niedrig. Und das Wetter? Regnerisch und kühl. Ach so, na dann! Na dann? Dann wählen wir heute mal nicht, weil der Weg zur Wahlkabine den Gebrauch eines Regenschirms erfordern würde, und wo der nun wieder ist, weiß ja auch kein Mensch.

Die Landtagswahl in Sachsen vom vergangenen Sonntag ist der aktuelle Tiefpunkt in der Reihe nachlassenden Interesses an der höchsten dem Bürger eingeräumten Mitbestimmungsmöglichkeit: Wahlbeteiligung 49,2 Prozent. Nicht mal jeder zweite Wahlberechtigte nahm teil. Ob zu den Motiven der vielen nicht wählenden Sachsen das Wetter oder das Wahldatum gehören – der 31. August war in Sachsen der letzte Ferientag –, sei dahingestellt. Wenn die Wahl nun mitten in den Sommerferien gewesen wäre, hätte der Termin sicherlich beklagt werden können. Aber am letzten Ferientag sind in der Regel alle wieder da. Und das Wetter am 30. August 2009 – dem Tag der vorangegangenen Landtagswahl – war mit sonnigen 22 Grad geradezu perfekt –, dennoch lag die Wahlbeteiligung mit 52,2 Prozent nur leicht höher. Und bei der Wahl davor, am 19. September 2004, war es ebenfalls schön, da lag die Wahlbeteiligung bei 59,4 Prozent.

In Belgien und Luxemburg gibt es eine Wahlpflicht

Doch es ist ja schon trübselig genug, dass diese meteorologischen Aspekte überhaupt zur Erklärung – oder eher Entschuldigung? – herangezogen werden. Denn natürlich hat es andere Gründe, wenn Menschen in diesen Größenordnungen nicht wählen gehen. Vielleicht ist das Ausdruck ihres wohl- überlegten Protests und der Überzeugung, dass ihre Stimme ohnehin nichts ändere. Aber vielleicht ist mehr noch eine gewisse Bequemlichkeit mitbestimmend – Motto: Wird schon auch ohne mich laufen. Und so könnte jetzt eine gute Zeit sein, sich das Wahlrecht mal als Wahlpflicht vorzustellen – wie es sie beispielsweise in Belgien oder Luxemburg gibt.

Die Wahlpflicht würde die Bequemlichkeit beenden. Und wenn man ohnehin losgehen müsste zum Wahllokal und dann in der Kabine die vielen Alternativen vor sich hat, kreuzt man womöglich doch ein Kästchen an, statt den brachialen Akt des Ungültigmachens auszuführen – und zu wissen, dass man damit der Stimme des Wählers in der Kabine nebenan mehr Gewicht gibt, als sie haben müsste. Der Wahlzettel als Wahlmotivator.

Wobei es ja jedem freisteht, alles durchzustreichen und so seinen Gesamtunmut über die Situation zu dokumentieren. Aber wenigstens ist der dann dokumentiert. Die jetzigen Nichtwähler sind in jeder Beziehung stimmlos, auch bezüglich ihres Wahrgenommenwerdens. Man deutet sich ihre Motive zurecht, wie es gerade passt – siehe Wetter – und ignoriert ansonsten zurück.

Je schlechter Politik, desto stimmgewaltiger sollte sie bewertet werden

Eine Wahlpflicht wäre die Beschneidung der Freiheit, etwas nicht zu tun – die ein fundamentales Recht ist. Andererseits kann man das massenweise Nichtwählen auch eine unterlassene Hilfeleistung für die Demokratie nennen, die ja vom Mitmachen lebt. Was ist daran schützenswert?

Bei allem Spott, bei allem Verdruss, bei allen Fehlern im politischen Alltag, die irritierende und sogar abstoßende Ausmaße annehmen können, ist die Demokratie am Ende für die Mehrheit der Bundesbürger die einzig akzeptable Staatsform. Wenn sie sich das vor Augen führen, könnten sie sich auch gern verpflichtet fühlen, sie zu verteidigen. Erst recht, wenn der Eindruck entsteht, den eigentlichen Schaden an der Demokratie richteten die Politiker selbst an, wenn sie Wahlversprechen nicht halten, wenn sie sich um ihre Partei oder die eigene Machtsicherung kümmern statt um allgemeine Belange, wenn sie auf krummen Amigowegen unterwegs sind. Aber damit ist das Volk nicht aus der Verantwortung entlassen. Im Gegenteil: Je schlechter Politik ist, desto stimmgewaltiger sollte sie bewertet werden.

Wahlpflicht ist unbeliebt, wie Pflichten das generell sind. An die meisten gewöhnt der Mensch sich aber schnell – sogar solche, die seinen Alltag betreffen: Es gibt Schulpflicht, Krankenversicherungspflicht, Sozialversicherungspflicht, Unterhaltspflicht, Gurtpflicht, Helmpflicht. Eine Wahlpflicht spürt man nur in Jahresabständen, und vielleicht stellt sich wie bei den anderen Pflichten irgendwann das Gefühl ein, sie sei etwas Gutes. Einen Versuch könnte es wert sein.

Zur Startseite