Polizei in Belgien und Deutschland geht gegen Islamisten vor: Zugriff im Morgengrauen
Nach den Anschlägen in Paris hat es in den vergangenen Tagen europaweit Razzien und Festnahmen gegeben. In Berlin erfolgte am Freitag der Zugriff im Morgengrauen. Wie gehen die Sicherheitskräfte vor?
Am Donnerstag ein Polizeieinsatz mit zwei Toten im belgischen Verviers sowie eine Festnahme in Wolfsburg und eine Razzia in Pforzheim, am Freitag Durchsuchungen und zwei Festnahmen in Berlin – die Behörden machen gegen Islamisten mobil.
Gegen wen richteten sich die Polizeiaktionen in Berlin?
Ziel des Polizeieinsatzes war eine Zelle mutmaßlicher islamistischer Terrorhelfer, die von einer Moschee in der Perleberger Straße in Moabit aus operierte. Hier soll der Kopf der Zelle, der 41-jährige Bauunternehmer Ismet D., einen Gebetszirkel geleitet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft D. vor, die Besucher dieses „Islamunterrichts“ – hauptsächlich Türken und Russen aus Tschetschenien und Dagestan – radikalisiert und auf einen Kampfeinsatz in Syrien eingeschworen zu haben. Offenbar mit Erfolg: Nach Angaben der Staatsanwaltschaft kämpfen mehrere ehemalige Besucher des Moabiter Gebetszirkels auf Seiten der Islamisten in Syrien. Wie viele der etwa 60 Berliner Islamisten, die in Syrien kämpfen, aus dem Umfeld der Zelle kommen, konnte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch nicht sagen.
Gegen drei weitere Mitglieder der Zelle – die Männer sind wie D. und G. türkische Staatsangehörige – wird ebenfalls ermittelt. Da sie nach Angaben der Staatsanwaltschaft aber nur untergeordnete Rollen spielten, blieben sie auf freiem Fuß. Laut Polizei handelt es sich bei den allen Verdächtigen um gewaltbereite Salafisten, die seit Jahren in der Berliner Islamistenszene aktiv sind.
Was genau hatten die Berliner Islamisten geplant?
Laut Innensenator Frank Henkel (CDU) gibt es keine Indizien dafür, dass die Zelle Anschläge in Deutschland geplant hat. Stattdessen sollen D. und seine Mitstreiter islamistische Terrorgruppen in Syrien mit Geld und militärischem Gerät unterstützt haben. Außerdem half die Zelle ausreisewilligen Dschihadisten bei den Reisevorbereitungen. Bei den Durchsuchungen fanden die Beamten am Freitag nicht nur Belege über den Kauf von Nachtsichtgeräten, sondern auch Flugtickets nach Istanbul. Viele europäische Islamisten fliegen erst in die türkische Hauptstadt und fahren dann weiter in das Kampfgebiet an der türkisch-syrischen Grenze.
Ein Mitglied aus dem Umfeld der Zelle sitzt bereits seit vergangenem Herbst in Untersuchungshaft: Der 40-jährige Murat S. wurde nach seiner Rückkehr aus Syrien am 19. September von einem Sondereinsatzkommando in Berlin verhaftet. Er soll im Januar ausgereist, bis August ein Trainingscamp des Islamischen Staates besucht und anschließend an Kampfhandlungen teilgenommen haben. Vor seiner Festnahme arbeitete S. in der Baufirma von D., dem Kopf der Zelle.
Wie sieht die Situation in Belgien aus?
Viele Details über die ausgehobene Terrorzelle, die Belgiens Generalstaatsanwalt Eric van der Sypt zufolge „in den nächsten Stunden oder Tagen zuschlagen wollte“, hat der Chefankläger nicht parat. Nur, dass die meisten der 13 Verdächtigen belgische Pässe besitzen, zwei von ihnen in Frankreich festgenommen wurden, und nun der Haftrichter entscheiden muss, was mit ihnen geschieht. Dass es beim Einsatz in Verviers, keine 30 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, zwei Tote und einen Schwerverletzten gegeben hat, bedauert an der Sypt, wobei die Polizeioperation, eine der größten der belgischen Geschichte, insgesamt „ein großer Erfolg“ sei. Größere Mengen Sprengstoff, Maschinenpistolen, Handfeuerwaffen, gefälschte Ausweise und jede Menge Bargeld sind bei den Hausdurchsuchungen unter anderem in Brüssel sichergestellt worden – sowie eine ganze Reihe von Polizeiuniformen.
Die Sicherheitskräfte selbst seien das Anschlagsziel gewesen. „Sie wollten mehrere Polizisten töten“, berichtet van der Sypt über die teilweise aus dem syrischen Bürgerkrieg zurückgekehrten Dschihadisten, „auf offener Straße und auf Polizeirevieren in ganz Belgien.“ Entsprechend erhalten die Beamten Anweisung, nicht mehr allein und nur noch mit schusssicherer Weste vor die Tür zu gehen. Viele Wachen sind an diesem Freitag geschlossen oder verbarrikadiert. Und in einer Krisensitzung beschließt die Mitte-Rechts-Regierung, 150 Soldaten zum Schutz solcher öffentlichen Gebäude abzustellen.
Nicht Erleichterung über den verhinderten Anschlag, sondern Unbehagen ist am Tag danach spürbar, weil die Behörden indirekt erkennen lassen, dass da noch mehr kommen könnte. Die zweithöchste Terrorwarnstufe ist ausgerufen, das Auswärtige Amt in Berlin rät Deutschen in Belgien zu erhöhter Vorsicht. Vor allem aber scheinen die Sondereinsatzkommandos nicht aller Verdächtigen habhaft geworden zu sein. „Ich kann nicht bestätigen, dass wir all jene verhaftet haben, die wir gerne verhaftet hätten“, windet sich Generalstaatsanwalt van der Sypt nach der entsprechenden Frage eines Journalisten. Ein Dementi der Meldung, wonach zumindest einige Mitglieder der Terrorzelle entkommen konnten, klingt jedenfalls anders.
Belgiens Chefankläger mag zudem nicht bestätigen, dass es eine dezidierte Drohung gegen jüdische Einrichtungen gegeben hat, zumindest aber gehen die Verantwortlichen nach dem Mord an vier Juden im koscheren Lebensmittelgeschäft von Paris kein Risiko ein. Die jüdischen Schulen in Brüssel und Antwerpen bleiben geschlossen.
Wo ging die Polizei in Deutschland noch gegen Islamisten vor?
Der Bundesgerichtshof hat am Freitag Haftbefehl gegen einen 26-jährigen früheren IS-Kämpfer erlassen, der am Vortag im Auftrag des Generalbundesanwalts in Wolfsburg festgenommen worden war. Der Deutsch-Tunesier Ayub B. soll zwischen Ende Mai und Mitte August 2014 in Syrien eine militärische Ausbildung durchlaufen und sich an Kämpfen beteiligt haben. Bei einer Offensive soll er Tote und Verletzte vom Schlachtfeld geborgen haben. Außerdem soll er weitere Kämpfer für den IS angeworben haben. Die Region Wolfsburg/Braunschweig gilt als ein Schwerpunkt der islamistischen Szene in Niedersachsen.
Anhaltspunkte für konkrete Anschlagspläne in Deutschland gebe es nicht, heißt es in einer Mitteilung des Generalbundesanwalts. Ursprünglich, so heißt es in der Mitteilung weiter, habe die Staatsanwaltschaft Hannover gegen den Mann ermittelt. „In der Folge erhärtete sich der Verdacht, dass der Beschuldigte sich in Syrien dem ISIG (Islamischer Staat Irak und Großsyrien, Anm. d. Redaktion) als Mitglied angeschlossen hatte.“ Vor diesem Hintergrund habe der Generalbundesanwalt Ende 2014 die Ermittlungen übernommen.
In Pforzheim hatte die Polizei am Donnerstag die Wohnungen mutmaßlicher Islamisten durchsucht.
Waren die Aktionen mit anderen Behörden in Deutschland oder Europa koordiniert?
Die Berliner Behörden ermitteln bereits seit rund einem Jahr gegen die am Freitag festgenommenen Männer. Der Zugriff, so sagte Polizei-Sprecher Stefan Redlich dem Tagesspiegel, stehe in keinem Zusammenhang mit Festnahmen in anderen Bundesländern und auch nicht mit den Razzien in Belgien. Eine Koordinierung habe also nicht stattgefunden. Auch die Terroranschläge in Paris waren demnach nicht der Auslöser für die Polizeiaktion am Freitagmorgen. Die Festnahmen seien bereits vor den Anschlägen in Paris geplant gewesen, sagt Redlich. Der genaue Tag habe aber noch nicht festgestanden. „Als jetzt klar war, dass einer der Verdächtigen ausreisen will, erfolgte der Zugriff.“
Auch beim Bundeskriminalamt hieß es am Freitag: Konzertierte Aktionen deutscher Behörden gebe es im Zuge der aktuellen Festnahmen und Razzien in Deutschland nicht. Auch die Festnahme in Wolfsburg stehe in keiner Verbindung zu den Anschlägen in Paris. Laut Staatsanwaltschaft in Karlsruhe war die Durchsuchung in Pforzheim ebenfalls unabhängig von den Ereignissen in Paris und Belgien. Dennoch gibt es Erklärungen dafür, dass in den vergangenen Tagen gleich mehrere Islamisten festgenommen wurden. „Die Szene ist seit Paris in Bewegung“, heißt es in Sicherheitskreisen. Viele Islamisten seien alarmiert und fürchteten Ermittlungen. Einige wollten daher Deutschland verlassen. Dann greifen die Behörden zu – so wie jetzt in Berlin.
Wächst die Angst vor Terroranschlägen in Deutschland?
Bei deutschen Sicherheitsbehörden sind nach „Spiegel“-Informationen Hinweise auf mögliche Anschläge auf die Hauptbahnhöfe in Berlin und Dresden eingegangen. Wie das Magazin am Freitag vorab aus seiner neuen Ausgabe berichtete, leiteten mehrere ausländische Nachrichtendienste übereinstimmende Meldungen an die deutschen Behörden weiter. Zudem hätten ausländische Geheimdienste Kommunikationsinhalte namentlich bekannter internationaler Dschihadisten abgefangen. Diese hätten mögliche Anschläge auf die wöchentlichen "Pegida"-Demonstrationen diskutiert. Die Anschlagsgefahr wächst also. Und damit auch die Angst. Seit den Anschlägen in Paris fürchten deutlich mehr Deutsche, dass auch die Bundesrepublik Ziel von Terroranschlägen werde könnte. Das zeigt die Befragung von Bundesbürgern im Rahmen des von ZDF und Tagesspiegel in Auftrag gegebenen Politbarometers. Fürchteten im September 2014 noch etwa 60 Prozent der Befragten, dass islamistische Terroristen in nächster Zeit auch bei uns Anschläge verüben werden, waren dies nach den Pariser Anschlägen schon 70 Prozent. Etwa 36 Prozent der Deutschen glaubt zudem, dass nicht genug zur Verhinderung von Anschlägen unternommen wird. Etwa die Hälfte hält die Sicherheitsmaßnahmen für ausreichend.