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Kanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Anfang Februar in Ankara.
© Lefteris Pitarakis/AP/dpa

Der Fall Deniz Yücel: Zerreißprobe zwischen Berlin und Ankara

Angela Merkel nennt die Untersuchungshaft für Deniz Yücel „enttäuschend“. Das EU-Flüchtlingsabkommen mit Ankara wird sie dennoch nicht riskieren. Berlin bleibt wenig Spielraum.

Es ist eine Eskalation, die sich in Berlin niemand gewünscht hat. Denn der Fall Deniz Yücel bringt das ohnehin schwierige und angespannte deutsch-türkische Verhältnis an seine Belastungsgrenze. Für wie schwerwiegend die Bundesregierung die Verhaftung des Korrespondenten hält, zeigt sich schon daran, dass die Kanzlerin und zwei ihrer Minister das Vorgehen der türkischen Justiz in ungewöhnlich scharfer Form kritisierten.

Die Nachricht von der Anordnung der Untersuchungshaft sei „bitter und enttäuschend“, erklärte Merkel. Da Yücel sich der Justiz freiwillig gestellt habe, sei die Maßnahme „unverhältnismäßig hart“. Die Bundesregierung erwarte, dass die türkische Justiz im Fall Yücel den hohen Wert der Pressefreiheit berücksichtige. Ähnlich kritisch äußerten sich auch Außenminister Sigmar Gabriel und Justizminister Heiko Maas (beide SPD).

Türkischer Botschafter zu einem Gespräch ins Auswärtige Amt gebeten

Der türkische Botschafter in Deutschland, Kemal Aydin, wurde wegen der Inhaftierung Yücels ins Auswärtige Amt zu einem Gespräch gebeten. Gabriel sagte, dass Staatsminister Walter Lindner in seinem Auftrag mit dem Botschafter ein Gespräch geführt habe.

Das Vorgehen gegen den deutsch-türkischen Journalisten hat in Deutschland eine breite Protest- und Sympathiebewegung ausgelöst, die sich nun über den Umgang der Türkei mit der Pressefreiheit empört. 160 Bundestagsabgeordnete schrieben an den türkischen Botschafter. Menschenrechtsorganisationen, Journalistenverbände, Künstler, Intellektuelle und private Initiativen („#FreeDeniz“) protestieren.

Wird mit Herrn Yücel weiterhin so verfahren wie berichtet, kann das Urteil über die türkischen Staatsorgane und die politische Führung der Türkei nur noch lauten: Sie sind Feinde der freiheitlich demokratischen Grundordnung und müssen als solche behandelt werden.

schreibt NutzerIn Taxifahrer

Der Fall Yücel ist zum Test geworden

Aus deutscher Sicht ist der Umgang mit Yücel zu einer Art Test geworden, ob die Türkei auf dem Weg in die Autokratie noch innehalten will. „Die türkische Führung muss wissen: Das ist nicht irgendein Fall, sondern wir werden uns mit allen Möglichkeiten, die uns rechtlich, aber auch politisch zur Verfügung stehen, dafür einsetzen, dass Herr Yücel schnellstmöglich auf freien Fuß gesetzt wird", sagte der SPD-Außenpolitiker Niels Annen im ZDF und warnte vor neuen Belastungen des bilateralen Verhältnisses. "Wir wollen das nicht. Aber wir können auch nicht einfach schweigen, wenn hier grundlegende Freiheiten von einem Land verletzt und ignoriert werden."
Zugleich warb Annen dafür, die Kontakte nicht abbrechen zu lassen: Sprachlosigkeit in der Krise könnten sich beide Seiten nicht leisten. Genau das ist bislang auch die Haltung der Bundesregierung.

Bundesregierung ist empört, muss aber mit Ankara kooperieren

Auf der einen Seite scheint die Bundesregierung ehrlich empört über Säuberungen und den geplanten Umbau der Türkei zu einem Präsidialsystem von Erdogans Gnaden. Auf der anderen Seite ist den wichtigen Akteuren in Berlin bewusst, dass harte deutsche Interessen weitere Kooperation mit Ankara unausweichlich machen: Das Land ist Nato-Partner in einer höchst instabilen Region, ist Basis für den Kampf gegen die Terrormiliz IS, die Geheimdienste kooperieren im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Und mehr als drei Millionen türkische Bürger in Deutschland schaffen Verbindungen, die sich nicht mit Machtworten aus der Welt schaffen lassen.

Merkel dürfte Flüchtlingsabkommen kaum aufs Spiel setzen

Auch dürfte es für Merkel keine Option sein, das Flüchtlingsabkommen der EU mit Ankara durch eigene politische Eskalation aufs Spiel zu setzen - erst recht nicht im Jahr der Bundestagswahl. Für Merkel ist das EU-Abkommen mit Erdogan, das die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge drastisch senkte, ein entscheidender Baustein in ihrer Flüchtlingspolitik. Auch der heutige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz lobte auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zu Beginn des vergangenen Jahres ausdrücklich Merkels Einsatz für die Vereinbarung mit Ankara.

Berlin kann kaum auf Erdogan einwirken

Über politische Hebel, die unmittelbar Wirkung auf Erdogan entfalten, verfügt Berlin aber kaum. Schon lange vor der Verhaftung von Yücel hatten deutsche und europäische Politiker gewarnt, dass die Umgestaltung der Türkei zur Autokratie ihr den Weg nach Europa endgültig verbauen werde. Beeindruckt hat das die Machthaber in Ankara kaum. Allerdings wird in Koalitionskreisen darauf hingewiesen, dass auch der Partner Interessen und Wünsche an Deutschland und an die Europäische Union hat - etwa nach Wirtschaftshilfe. Ausländische Investoren halten sich seit der harten Reaktion der türkischen Regierung auf den Militärputsch zurück, weil ihnen die Lage zu unsicher scheint. Das drückt die Konjunktur. Hilfszusagen könne man stärker als bisher vom Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit abhängig machen, heißt es nun in der Berliner Koalition.

Opposition fordert schärfere Konsequenzen

Die Oppositionsparteien Linke und Grüne rufen derweil nach schärferen Konsequenzen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour verlangte ein entschiedeneres Auftreten der Bundesregierung. Merkel habe sich durch ihre Türkei-Politik „in die Geiselhaft Erdogans begeben“, kritisierte er. Die Vorsitzenden der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, verlangten, die Bundesregierung müsse die Bundeswehr aus dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik abziehen, Rüstungsexporte in die Türkei stoppen und „den geplanten Propagandaauftritt des türkischen Staatspräsidenten Erdogan in Deutschland für seine Diktatur unterbinden“. Allerdings hatte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, kürzlich erklärt, es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass ein Auftritt von Erdogan in Deutschland geplant sei.

„Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt würdigte ausdrücklich, dass sich nicht nur der deutsche Generalkonsul in Istanbul und der deutsche Botschafter in Ankara für Yücel einsetzen, sondern auch Kanzleramt und Auswärtiges Amt. Er habe nicht das Gefühl, dass man die Bundesregierung „noch einmal wachrütteln muss, um auf das Thema aufmerksam zu machen“, sagte Poschardt dem TV-Sender N24.

Staatssekretäre Haber und Lindner mit guten Kontakten nach Ankara

Bei ihrem letzten Besuch in der Türkei hatte Merkel Anfang Februar bei einem Treffen mit Erdogan sowohl die Kooperation beider Länder in der Flüchtlingspolitik und bei der Bekämpfung des Terrors bekräftigt, aber auch die Streitpunkte zwischen beiden Ländern zur Sprache gebracht: die Wahrung der Meinungsfreiheit und der Gewaltenteilung in der Türkei sowie der Vielfalt in der türkischen Gesellschaft. Auch setzte sich die Kanzlerin für die gefährdete Akkreditierung deutscher Korrespondenten ein - bis auf wenige Ausnahmen wurden diese dann auch erteilt.

Parallel zu Merkels Besuch in Ankara hielt sich seinerzeit im Land am Bosporus auch eine Delegation des Innenministeriums unter der Leitung der Innenstaatssekretärin Emily Haber auf, welche die Kooperation im Kampf gegen den Terror besprach. Haber gehört zu jenen deutschen Regierungsvertretern, die über gute Kontakte in Ankara verfügen. Sie war früher als Diplomatin selbst schon an der deutschen Botschaft in Ankara tätig – genauso wie Außenamts-Staatssekretär Lindner, der nun mit dem Fall befasst ist.

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Hans Monath, Albrecht Meier

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