Antisemitismus – nur ein Kapitel: Zentralrat der Juden kritisiert Kabinettsausschuss zu Rechtsextremismus
Der Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus übersieht für den Zentralrat die historische Dimension der Judenfeindschaft.
Die Warnung ist drastisch. „Die Gefährdungslage durch Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus ist in Deutschland sehr hoch“, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) dieses Jahr mehrfach betont. Und die aktuellen Zahlen der Polizei zu rechter und antisemitischer Kriminalität, die der Tagesspiegel Dienstag veröffentlichte, sind ein weiterer Beleg für die wachsende Gefahr.
Mehr als 9300 rechte Straftaten im ersten Halbjahr
Im ersten Halbjahr verübten Neonazis und andere Rechte mehr als 9300 Straftaten, das ist ein Anstieg um 700 gegenüber den ersten sechs Monaten 2019. Auch bei antisemitischen Delikten, von der Polizei meist rechten Tätern zugeordnet, gab es enormen Zuwachs: 876 Straftaten von Januar bis Juni, das sind 177 mehr als im ersten Halbjahr 2019. Es gibt viel zu tun für den „Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“, den Angela Merkel im März initiierte und der sich im Mai konstituierte. Doch hat der von Seehofer geleitete Ausschuss die richtige Strategie?
Zentralrat warnt vor antisemitischen Verschwörungsmythen
Es werden Zweifel laut. Der Zentralrat der Juden in Deutschland begrüßt die Gründung des Kabinettsausschusses, doch dessen Programm, der „Bericht der Bundesregierung“ zur Lage im Land, stößt auf Kritik. Schon grundsätzlich. Im Bericht „wird Antisemitismus neben Rechtsextremismus und Rassismus nicht als eigenes Problemfeld benannt“, moniert der Zentralrat in einer Stellungnahme. Antisemitismus werde „entweder unter Rechtsextremismus oder Rassismus subsumiert“.
Der Zentralrat sieht die historische Dimension des Antisemitismus unterschätzt. „Während Rassismus auf punktuellen Vorurteilen aufbaut, ist Antisemitismus ein umfassendes Weltbild“, heißt es. Der Zentralrat warnt, „insbesondere vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie beobachten wir einen besorgniserregenden Anstieg an Verschwörungsmythen, die Juden als Drahtzieher einer Weltverschwörung diffamieren“.
Ministerium: Antisemitismus ein wichtiges Thema
Im Bericht der Bundesregierung ist die „Bekämpfung von Antisemitismus/ Schutz jüdischer Einrichtungen“ ein Kapitel, wie auch die „Bekämpfung von Islam- und Muslimfeindlichkeit“ und die „Bekämpfung von Antiziganismus". Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte am Mittwoch dem Tagesspiegel, Antisemitismus sei ein wichtiges Thema, die Bezeichnung des Kabinettsausschusses solle es „mit umfassen“.
Anhörung von NGOs in Berlin
Mit der Kritik des Zentralrats könnte die Regierung diesen Donnerstag direkt konfrontiert werden. Der Ausschuss veranstaltet in Berlin eine nicht öffentliche Anhörung mit mehr als 40 Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), neben dem Zentralrat der Juden sind auch Migrantenverbände sowie Initiativen für Opfer rechter Gewalt eingeladen. Eine weitere Anhörung, in kleinerem Kreis, soll es im September im Kanzleramt geben.
Zentralrat für "positiven Zugang zu Judentum"
Der Zentralrat der Juden fordert in seiner Stellungnahme generell mehr Verständnis. Jüdinnen und Juden wollen nicht nur als Opfer und Gegenstand gesellschaftlicher Debatten gesehen werden. Auch und gerade die Bildungsarbeit in Sicherheitsbehörden müsse „zwingend notwendig“ gestärkt werden. „Über einen positiven Zugang zu Judentum, jüdischem Leben, jüdischer Religion, Kultur und Israel“ solle eine „Beziehungsbasis gelegt werden, auf der wirkungsvoll die Arbeit an den Problemfeldern Antisemitismus und Erinnerung an die Schoa erfolgen kann“, heißt es in der Stellungnahme.
Prüfungstermine an jüdischen Feiertagen
Betont wird die Notwendigkeit, Jüdinnen und Juden als Gesprächspartner einzubeziehen. Auch um Kränkungen zu vermeiden. Der Zentralrat spricht von Diskriminierungen „auch in der Mitte der Gesellschaft und an staatlichen Institutionen“, wenn beispielsweise bei der Festlegung von Prüfungsterminen an Bildungseinrichtungen „nicht vermieden wird, dass diese auf jüdische Feiertage fallen“.
Schüler sollen KZ-Gedenkstätten besuchen
Das ist nicht das einzige Manko, das der Zentralrat bei Schulen und anderen Bildungsinstitutionen nennt. Lehrpläne müssten überarbeitet werden. „Judentum sowie Jüdinnen und Juden sollten nicht ausschließlich im Zusammenhang mit Antisemitismus und Schoa thematisiert werden, sondern im Zusammenhang mit einem positiven Miteinander“, heißt es. Auf dieser Basis hofft der Zentralrat auch auf mehr Empathie für die Opfer der Schoa. Angeregt wird, jeder Schüler und jede Schülerin einer weiterführenden Schule sollten einmal eine KZ-Gedenkstätte besuchen.
Weitere NGOs stellen Forderungen an die Regierung
Weitere NGOs betonten ebenfalls die Notwendigkeit, sich auch mit dem Hass auf Juden zu befassen. "Wir brauchen eine Agenda gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus - und keine Sonntagsreden", hieß es am Mittwoch in einer gemeinsamen Mitteilung des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer Gewalt (VBRG), von EachOne TeachOne (EOTO), des Bundesverbands Mobile Beratung (BMB) und der "neue deutsche organisationen (ndo)". Vom Kabinettsausschuss werden mehrere Beschlüsse erwartet. Aus Sicht der NGOs ist für Opfer rechter Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus in Deutschland ein Gesetz für ein "humanitäres Bleiberecht" notwendig. "Es kann nicht sein, dass Täter profitieren, weil abgeschobene Opfer nicht als Zeugen in Strafverfahren aussagen können", heißt es.
Bundesamt für Justiz soll Entschädigung für Betroffene rechter Gewalt ausweiten
Ein weiterer Punkt ist die "Ausweitung der Entschädigungsleistungen für Betroffene von rassistisch, antisemitisch und rechtsextrem motivierten schweren Sachbeschädigungen und Brandanschlägen durch das Bundesamt für Justiz". Die Angegriffenen stünden nach den Anschlägen auf Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, Shisha-Bars oder Imbisse "buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz".
Die NGOs fordern zudem von der Bundesregierung eine Studie zu Racial Profiling und Rassismus bei den Polizeibehörden des Bundes und der Ländern. Innenminister Seehofer hatte eine solche Studie abgelehnt. Weitere Forderungen der Organisationen sind ein "Bundesantidiskriminierungsgesetz zum Schutz vor Diskriminierung durch staatliche Stellen" und eine "verbindliche Arbeitsdefinition von institutionellem und strukturellem Rassismus".