Die EU und die Flüchtlingstragödie: Zeit für eine neue Politik
Das neueste Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer zeigt die Ratlosigkeit der Europäischen Union. Dabei muss sie dringend aktiv werden - auch wenn es keine einfachen Lösungen gibt. Ein Kommentar.
Das sind die Nachrichten einer Woche: 400 Menschen ertrinken im Mittelmeer, auf dem Weg nach Europa. Auf einem anderen seeuntauglichen Boot stößt eine Flüchtlingsgruppe die andere ins Wasser, Muslime gegen Christen, zwölf Menschen sterben. 11.000 Menschen erreichen innerhalb von nur sechs Tagen Italien, auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Perspektivlosigkeit. Und nun das: Bis zu 700 Menschen werden nach dem Kentern eines überfüllten Flüchtlingsboots im Meer vermisst, wahrscheinlich sind sie tot. Es sind nur die dramatischsten Neuigkeiten der vergangenen sieben Tage.
Dazu gehören weitere erschreckende Zahlen. Mehr als 50 Millionen Menschen waren im Jahr 2013 (aktuellere Daten gibt es nicht) weltweit auf der Flucht. Allein im Irak wurden seit Anfang 2014 mindestens 2,7 Millionen Menschen vertrieben, nicht alle, aber viele von ihnen werden ihre Heimat verlassen müssen. In Syrien sind es seit Beginn des Bürgerkriegs fast zwölf Millionen. Dazu kommen Libyen, Jemen, Somalia – die Liste ließe sich fortsetzen. Die Flüchtlingskatastrophe wird eine der schlimmsten, die es je gab.
Und die europäische Politik? Man sollte doch annehmen, dass sie angesichts von hunderten Ertrunkenen in wenigen Tagen deutlich aktiver wird. Dass Flüchtlingsgipfel einberufen werden, das Thema zur Chefsache gemacht wird. Ja: dass es nach einer solchen Woche kein wichtigeres Thema gibt. Stattdessen waren die 400 Ertrunkenen Anfang vergangener Woche eine Schreckensnachricht unter vielen, die Appelle die immer gleichen. Es wurde keine einzige neue Initiative gestartet, die EU gibt sich ratlos. Immerhin: Beim heutigen Außenministertreffen hat es das Thema nun doch auf die Tagesordnung geschafft. Man darf gespannt sein.
Die bisherige Antwort der EU auf das Drama vor ihren Grenzen ist beschämend routiniert. Man will ab Mai einen Zuwanderungsplan diskutieren und bis Weihnachten einen Bericht ausarbeiten.
Auch ein Programm wie "Mare Nostrum" wäre alleine kein Allheilmittel
Zugegeben, angesichts von immer mehr Ländern, die unregierbar werden, aus denen sich ganze Volks- und Religionsgruppen auf den Weg nach Europa machen, gibt es keine schnelle Lösung. Schon gar keine einfache. Auch ein neues Seerettungsprogramm nach dem Vorbild des im vergangenen Herbst eingestellten „Mare Nostrum“ ist kein Allheilmittel. Dringend nötig ist es dennoch. Angesichts von deutlich mehr als 1000 Ertrunkenen allein seit Jahresbeginn gibt es dagegen auch kein schlagendes Argument – wie das fehlender Finanzen oder die Angst vor einer Mittäterschaft beim menschenverachtenden Werk der Schlepper.
Doch solch ein Programm kann ohnehin nur eine Maßnahme sein. Dazu müssen weitere kommen, Vorschläge gibt es. Zum Beispiel, dass die EU Einrichtungen in Transitländern eröffnet, um zu ermöglichen, dass sich Menschen schon weit vor einer waghalsigen Fahrt übers Meer legal um Visa oder Asyl bewerben können. Auch die Suche nach Lösungen für die Krisenländer darf nicht aufgegeben werden, damit Syrer, Iraker, Libyer, Somalier irgendwann wieder eine Zukunft in ihrer Heimat haben. Sonst wird das Problem viel zu groß für einen Kontinent.
Noch zögert Europa. Weil wir uns an die Toten gewöhnt haben? Die Nachrichten werden nicht verstummen, die Zahl der Boote nicht abnehmen, die Krisenherde nicht verschwinden. Es ist Zeit für eine neue Politik. Das ist sich der Friedensnobelpreisträger Europa schuldig.