zum Hauptinhalt
Proteste türkischer Aktivisten gegen die Ausweisung syrischer Flüchtlinge.
© O. Kose/AFP

Vertreibung am Bosporus: Zehntausende syrische Kriegsflüchtlinge müssen Istanbul verlassen

Für viele Flüchtlinge in Istanbul beginnt der Exodus. Sie sollen umgesiedelt werden – mit teilweise lebensgefährlichen Folgen.

Manchmal kommen Rana die Tränen, doch dann reißt sie sich rasch wieder zusammen: Sie muss stark bleiben, damit ihre Kinder leben können. Zum zehnten Mal packt die 40-Jährige die Habseligkeiten ihrer Familie, die auf der Flucht immer weniger geworden sind. Das Haus bei Damaskus, das Auto, ihre Arbeit als Psychologin, die Restaurantkette ihres Mannes in Syrien – das alles ist längst verloren.

Aber sie sind am Leben: sie selbst und ihr Mann, die beiden Söhne von 22 und 23 Jahren und die Töchter, fünf und zehn Jahre alt. Ein paar billige Möbel besitzen sie, die sie in Istanbul von geliehenem Geld gekauft und mit den Hungerlöhnen ihrer Hilfsjobs abgestottert haben. Nun geht es darum, wie sie die nach Bursa bekommen sollen – eine westtürkische Stadt, in die sie auf Befehl des Gouverneursamtes von Istanbul bis zu diesem Dienstag umsiedeln sollen.

Eine amtliche Aufforderung haben sie nicht bekommen. Nur aus den sozialen Medien weiß Rana von dem Dekret: Bis zum 20. August sollen alle syrischen Flüchtlinge, die nicht in Istanbul registriert sind, die Stadt verlassen. Die Behörden reagieren damit auf den wachsenden Unmut der Türken über die Anwesenheit von 3,6 Millionen Syrern im Land – allein in Istanbul leben mehr als eine halbe Million syrische Flüchtlinge. Von den Syrern in Istanbul will kaum einer über seine Lage sprechen. Auch Rana will ihren wahren Namen nicht genannt wissen.

Offiziell sollen die Syrer lediglich in die türkischen Provinzstädte geschickt werden, in denen sie bei ihrer Ankunft registriert wurden, oder schlimmstenfalls in ein Flüchtlingslager. Aber Rana und ihre Familie haben Angst, dass es dabei nicht bleiben wird. Mehrere Freunde ihrer Söhne seien schon nach Syrien deportiert worden, erzählt sie: in Istanbul auf der Straße von der Polizei geschnappt, gefesselt und in einen Bus gesetzt, der erst im syrischen Idlib wieder hielt.

Zwischen den Fronten

Rana will es nicht darauf ankommen lassen, denn das würde ihre Söhne in Lebensgefahr bringen: Die Kämpfer der früheren Nusra-Front, die in Idlib herrscht, überprüfen alle jungen Männer, die sie aufgreifen – und sperren sie ein, wenn sie aus der falschen Gegend stammen. Ranas Familie kommt aber aus dem Bezirk Goutha bei Damaskus, wo bis vor Kurzem eine rivalisierende Rebellengruppe herrschte. Das würde den Nusra-Kämpfern ausreichen, um Ranas Söhne zu verhaften, kämen sie ihnen zwischen die Finger – davon sind die Eltern überzeugt.

Genau davor war die Familie geflohen. In der Türkei wähnte sie sich bei ihrer Ankunft vor einem Jahr in Sicherheit. Fünf Jahre Belagerung hatten sie hinter sich: als zivile Geiseln eingekesselt in ihrer Heimatstadt, während die Truppen des Assad-Regimes die Rebellen aushungerten. Strom gab es schon lange nicht mehr, erzählt Rana, und kaum Lebensmittel. Per Tauschhandel konnte sie Gemüse von Bauern erwerben; sie fütterte ihre Kinder mit rohem Blumenkohl durch.

Als die Belagerung Gouthas im vergangenen Frühjahr endete, wurde die Zivilbevölkerung nach Nordsyrien deportiert. „Nicht besser als ein Viehstall“ war die Unterkunft dort, erzählt Rana. Sie war dankbar für die Decken, die eine Hilfsorganisation ihnen schenkte. Einen Monat lang hielten sie es aus, dann schlichen sie über die geschlossene Grenze in die Türkei und schlugen sich nach Istanbul durch – dem logischen Anlaufpunkt für die, die nichts besitzt und die Landessprache nicht versteht.

Hunderttausende Syrer leben bereits in Istanbul, das erleichtert Neuankömmlingen den Start. Ranas Mann, der vormalige Restaurantbesitzer, fand in Istanbul einen Job bei einer syrischen Imbissbude – für viel weniger als den türkischen Mindestlohn zwar, aber die Söhne arbeiten auch. Anmelden durfte sich die Familie in Istanbul nicht, weil die Metropole schon lange keine Syrer mehr annimmt; deshalb registrierten sie sich mithilfe eines Schleusers im nächstgelegenen Bursa.

Mehr als die Meldestelle hat Rana von Bursa nie gesehen. Auf Facebook sucht sie nach anderen Syrern, mit denen sie dort in Kontakt treten könnte. Die Familie braucht ein Dach über dem Kopf und irgendeine Arbeit – aber wie soll das so schnell gehen? 175 000 syrische Flüchtlinge sind in Bursa registriert, doch de facto dürften die meisten in Istanbul leben. Rana ist beim Amt in Istanbul gewesen und hat nach Umzugshilfen gefragt, aber nur Verwirrung vorgefunden. Die kurzfristige Umsiedlung der Syrer habe die Behörden wohl selber kalt erwischt, meint sie – organisiert sei dort nichts.

Rana musste deshalb die letzte Verwandte anbetteln, von der sie noch kein Geld geliehen hatte – eine Nichte in Saudi-Arabien. Unglaublich belastend sei das, ständig den Angehörigen zur Last zu fallen, sagt sie, und dabei kommen ihr wieder die Tränen. Jeder weitere Tag in Istanbul bereitet ihr Höllenqualen seit dem Ultimatum des Gouverneurs: Die Söhne könnten aufgegriffen und nach Syrien abgeschoben werden, fürchtet sie. Sobald das Geld von der Nichte kommt, will sie die Familie nach Bursa bringen – weiter auf der Flucht.

Zur Startseite