Afghanistan: Zehn Jahre Krieg am Hindukusch - Ein langer Marsch
Freudig begrüßten die Afghanen einst die ausländischen Truppen. 140.000 Soldaten aus 40 Nationen sind heute in Afghanistan. Doch je länger der Einsatz dauert, desto mehr sinkt die Hoffnung auf Frieden – auf beiden Seiten.
Berlin - Alles schien so einfach zu sein: Al Qaida ausschalten, das Taliban-Regime stürzen, Köpfe und Herzen der Afghanen gewinnen und ihnen nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs endlich Frieden, Sicherheit und Wohlstand schenken. Als die ausländischen Truppen nach 9/11 an den Hindukusch kamen, wurden sie, heute kaum noch vorstellbar, mehrheitlich freudig begrüßt. Die Erwartungen waren groß, die Hoffnungen immens, und die westliche Allianz, im Glauben an eine kurze erfolgreiche Mission, naiv genug, mit Verheißungen nicht zu geizen. Zehn Jahre später sind die Träume geplatzt. Ernüchterung ist eingekehrt. Auf allen Seiten.
„Die Ziele waren zu hoch“, sagt Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) heute. „Die internationale Intervention steht vor dem Scheitern“, sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Die Allianz habe sich „zu sehr auf den militärischen Teil konzentriert“, den „Aufbau eines funktionierenden Staatswesens vernachlässigt“, und das Schicksal des Landes „in die Hände korrupter Politiker und Warlords gelegt, die eigentlich vors Kriegsverbrechertribunal nach Den Haag gehörten“ – stattdessen hätte man mehr auf loyale Einheimische setzen sollen, sagt Ruttig.
Die Taliban sind neu erstarkt und bereiten wieder Probleme
2003 waren in Afghanistan nicht einmal 20 000 ausländische Soldaten. Inzwischen umfasst die Schutztruppe Isaf 140 000 Soldaten aus mehr als 40 Nationen, hinzu kommen mehrere Zehntausend Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen – und die Lage ist trotzdem nicht unter Kontrolle. Im Gegenteil. Seit 2004, nachdem sich die Taliban in Pakistan neu formiert hatten und wieder erstarkt begannen, den Isaf-Truppen das Leben in Afghanistan schwer zu machen, hat sich die Zahl der getöteten Soldaten jährlich erhöht, auf inzwischen insgesamt mehr als 2750.
Wie die Internetseite „icasualties.org“ zeigt, war die Entwicklung in den vergangenen drei Jahren besonders dramatisch. 2008 starben 295 Soldaten, 2009 waren es 521 und im vergangenen Jahr 711. In diesem Jahr dürfte sich die Zahl nochmals erhöhen. Hauptleidtragende im Konflikt aber ist die afghanische Zivilbevölkerung. Nach UN-Angaben starben im vergangenen Jahr 2777 Afghanen, die nicht an den Kriegshandlungen beteiligt waren. 1462 Menschen kamen allein im ersten Halbjahr 2011 ums Leben – mehr denn je innerhalb von sechs Monaten. Drei Viertel der Opfer wurden dabei von den Aufständischen getötet.
Milliarden von Fördergeldern erreichen nur Teile der Bevölkerung. Lesen Sie weiter auf Seite 2.
Von Anfang an gehörte die Wiederaufbauhilfe zum Programm der westlichen Allianz. Tatsächlich gibt es Fortschritte. Vor allem in den Städten wird vielfach normal gelebt, gehandelt und gearbeitet, gibt es Strom, Trinkwasser, mehr und bessere Straßen und Brücken. Krankenhäuser wurden eingerichtet, Mädchenschulen gebaut, überhaupt Bildung und Ausbildung gefördert – viel ist passiert, viel wurde getan, viel investiert. Doch trotz einiger Erfolge reicht das Geld vorne und hinten nicht. Denn die Ausgaben für die internationale Hilfe machen nur einen Bruchteil dessen aus, was man sich jeweils den Krieg kosten lässt: Die USA geben für den Militäreinsatz allein monatlich fünf Milliarden Euro aus. 200 Millionen zahlen sie an Hilfsgeldern.
Die Bundesregierung veranschlagt gut 800 Millionen Euro für vier Wochen Militäreinsatz und 36 Millionen Euro für zivile Projekte. Hinzu kommt: Zugesagte Entwicklungshilfe wird zum Teil nicht ausgezahlt, Fördergelder verschwinden in dem von Korruption zerfressenen Land in dunklen Kanälen. Das Ergebnis ist verheerend. „All die Wiederaufbaumilliarden haben an den Lebensumständen der Mehrheit der Afghanen nichts geändert“, sagt Ruttig, „die soziale Kluft zwischen der kleinen reichen Oberschicht und dem großen Rest der afghanischen Bevölkerung ist so groß wie noch nie in der Geschichte des Landes“.
Eine Infrastruktur sei nur in Anfängen vorhanden, im Bildungs- und Gesundheitswesen gebe es „gewisse Fortschritte, die aber durch die Eskalation des Krieges wieder untergraben“ würden, Mütter hätten Angst, ihre Töchter zur Schule zu schicken, Angehörige Angst, Kranken die Gefahren des Weges in die Klinik zuzumuten. Am nachhaltigsten aber wiege, sagt Ruttig, dass sich die Hoffnung der Afghanen auf eine Entwicklung hin zur Demokratie zerschlagen habe. „Es gab zwar Wahlen, aber sie waren gefälscht: Stimmabgabe und Wahlergebnis stimmten nicht überein“, sagt Ruttig und fügt hinzu: „An diesem Punkt haben die Afghanen begriffen, dass Präsident Karsai von Washington bestimmt und nicht von ihnen gewählt wurde. Seitdem glauben viele, dass Waffen das einzige Mittel sind, etwas zu ändern.“
Soldaten raus aus dem Land - und wie soll es weitergehen?
Gleichzeitig ist das afghanische Volk so kriegsmüde wie die Bürger der Truppenstellernationen. In Zeiten der Schulden- und Finanzkrise, drohender Rezession und Inflation fehlt denen das Geld daheim an allen Ecken und Enden. Zudem tut die Öffentlichkeit der „postheroischen“ Demokratien sich schwer, Tote, Verletzte, Opfer zu ertragen. Der Abzug ist denn auch beschlossene Sache. Bis Ende 2014 sollen, so haben es sich die Nato-Mitgliedsländer Ende 2010 auf ihrem Gipfel in Lissabon vorgenommen, die ausländischen Kampftruppen vollständig abziehen. Und dann? Wie soll es weitergehen? Die internationale Gemeinschaft hat angekündigt, sich über 2014 hinaus in Afghanistan zu engagieren. Doch viele fürchten, dass mit den Soldaten auch die Aufmerksamkeit, das Geld und das Zivilpersonal der Helferländer abziehen, dass die afghanische Polizei und Armee, die praktisch aus dem Nichts aufgebaut wurden, noch nicht in der Lage sein werden, Sicherheit zu gewährleisten und dass das entstehende Machtvakuum von Extremisten gefüllt werden und ein neuer Bürgerkrieg unvermeidlich sein könnte.
In der Allianz wächst die Ratlosigkeit. Zumal die jüngsten Friedenshoffnungen schwer gedämpft wurden, als kürzlich Burhanuddin Rabbani ermordet wurde – der Ex-Präsident sollte im Auftrag Karsais mit den Aufständischen verhandeln. Der hat daraufhin die Gespräche mit den Taliban vorerst gestoppt. Die USA, sagt Ruttig, fielen nun von einem Extrem ins andere: Erst kamen die Taliban, weil Terroristen, als Verhandlungspartner11141 gar nicht infrage, dann ruhten alle Hoffnungen auf ihrer politischen Einbindung – nach dem Rabbani-Mord soll nur noch mit Pakistan geredet werden. „Das ist falsch“, sagt Ruttig. „Der Westen und Karsai müssen mit beiden reden.“ Die nächste Gelegenheit dazu könnte die Afghanistan-Konferenz am 5. Dezember auf dem Petersberg in Bonn bieten.