Eine Chronologie des Tages: Wütende Trump-Anhänger dringen ins Herz der US-Demokratie vor
Aufgestachelte Unterstützer des abgewählten Präsidenten stürmen das Kapitol – wo der Kongress Bidens Sieg bestätigen soll. Die Nationalgarde greift ein.
Es sind unfassbare Szenen, die sich am Mittwoch in Washington abspielen. Nachdem Zehntausende Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump schon seit dem frühen Morgen dagegen demonstrieren, dass der Kongress den Wahlsieg des Demokraten Joe Biden offiziell bestätigt, eskaliert die Situation am Nachmittag.
Hunderte Demonstranten dringen in das Kapitol ein, in dem zeitgleich die beiden Kammern des Kongresses gemeinsam tagen. Sie schaffen es bis an die Türen des Saals, in dem die Abgeordneten und Senatoren versammelt sind, verschaffen sich Zugang zu anderen Räumen. Das gesamte Kapitol wird unter Lockdown gestellt, Berichten zufolge wird nicht nur draußen, wo Hunderte auf den Stufen fahnenschwenkend ihren Überraschungs-Coup feiern, sondern auch im Inneren Tränengas eingesetzt. Glastüren bersten, Sicherheitskräfte ziehen ihre Waffen. Angeblich fallen auch Schüsse, eine Person soll verletzt sein.
Vizepräsident Mike Pence, der die Sitzung leitet, wird aus dem Kapitol in Sicherheit gebracht, anschließend auch die meisten anderen Spitzenpolitiker. Wann es weitergeht, ist offen.
Nur einer schweigt lange: Donald Trump. Um 11 Uhr hatte der Republikaner seine Anhänger vor dem Weißen Haus noch so richtig in Wallung gebracht. Bei einer kurzfristig anberaumten Rallye behauptete er erneut, die Wahl sei ihm gestohlen worden. In der Nacht zu Mittwoch wurde seine Niederlage vom 3.November noch weiter zementiert, als sich im Bundesstaat Georgia abzeichnete, dass es den beiden demokratischen Kandidaten Raphael Warnock und Jon Ossoff gelingen könnte, in ihren Stichwahlen die beiden noch offenen Senatssitze zu erobern.
Pence stellt sich gegen Trump
Warnocks Triumph wurde noch in der Nacht von US-Sendern ausgerufen, Ossoffs Sieg stand am Mittwochnachmittag fest. Damit übernehmen die Demokraten nach dem Repräsentantenhaus 2018 nun auch den Senat. Denn die damit erreichte Stimmengleichheit (50 zu 50) könnte die designierte Vizepräsidentin Kamala Harris mit ihrer Stimme zu Gunsten der Demokraten drehen. Damit hat Joe Biden größere Chancen, ehrgeizige Gesetzesvorhaben durchzubringen und Posten in seiner Regierung zu besetzen.
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Aber Trump behauptet am Mittwoch, auch bei dieser Wahl seien die Republikaner betrogen worden. Seinen Vize Pence hatte er zuvor gedrängt, Biden den Sieg nicht zuzuerkennen. Ansonsten werde ihm das sehr schaden, hatte Trump getönt. Doch der ihm eigentlich so treu ergebene Pence erklärte, ihm diesen letzten Wunsch nicht zu erfüllen. Er hat dazu schlicht nicht die Macht. Die Rolle des Vizepräsidenten bei der traditionellen Sitzung ist eine rein zeremonielle. Die Verfassung gibt ihm, versucht Pence zu erklären, keine Macht, „einseitig“ darüber zu entscheiden, „welche Wählerstimmen gezählt werden sollten und welche nicht“. Daran kann auch Trump nichts ändern.
Trump stachelt seine Anhänger auf
Stattdessen facht der Präsident eben die Wut seiner Anhänger an. Auf den Straßen ist am Mittwoch ein ums andere Mal zu hören, dass die Demokraten ihnen den Sieg geklaut hätten. Das werde man nicht zulassen, heißt es. „Stop the Steal“ steht auf Transparenten und T-Shirts, es erklingt aus Tausenden Kehlen.
Noch während der Trump-Rallye ziehen die wütenden Demonstranten entlang der Mall zum Kapitol. Gegenprotest ist weit und breit nicht zu sehen, was zunächst entspannend wirkt. Die Bürgermeisterin Washingtons, Muriel Bowser, hatte die Einwohner aufgefordert, das Zentrum der Hauptstadt an diesem Tag zu meiden.
Dort beginnt um 13 Uhr die gemeinsame Sitzung im Repräsentantenhaus. In Erinnerung wird vor allem bleiben, wie sichtlich geschockt der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, sich darüber zeigte, in welche verfahrene Situation der Präsident nicht nur seine Partei, sondern das gesamte Land gebracht hat.
Schon nach kurzer Zeit wird die Auszählung unterbrochen, weil einige republikanische Abgeordnete mit der – dafür zwingend vorgeschriebenen – Unterstützung von Senatoren einzelne Ergebnisse in besonders umkämpften Bundesstaaten anzweifeln. Das beginnt mit Arizona und war erwartet worden. Die Senatoren und Abgeordneten sollen darüber getrennt und jeweils höchstens zwei Stunden beraten.
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Dazu kommt es nicht mehr. Als Demonstranten in das Gebäude eindringen, werden die Sitzungen beendet und die Politiker evakuiert – nachdem sie aufgefordert worden waren, Gasmasken bereitzuhalten. Noch Stunden später haben die Sicherheitskräfte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht.
Bürgermeisterin Bowser verhängt eine Ausgangssperre ab 18 Uhr und fordert die Nationalgarde zur Unterstützung an. Warum die Sicherheitskräfte sich derart überrumpeln ließen, wird eine der vielen Fragen sein, die in den kommenden Tagen und Wochen geklärt werden muss.
Die Proteste waren angekündigt gewesen, dass unter den Demonstranten auch viele gewaltbereite Rechtsextreme sein würden, war bekannt. Und doch konnten sie bis ins Herz der amerikanischen Demokratie vordringen – und die USA vor den Augen der Welt bis aufs Mark blamieren. Vor laufenden Kameras klettern sie die Fassade empor, vor der gerade erst die Aufbauarbeiten für die Tribüne für Bidens Amtseinführung abgeschlossen worden sind.
Irgendwann muss Trump genug von diesen irren Szenen auf seinen Fernsehern im Weißen Haus gesehen haben, in das er sich nach seiner Rallye zurückgezogen hat – obwohl er seinen Anhängern versprochen hatte, mit ihnen zum Kapitol zu marschieren.
In einem ersten dürren Tweet ruft er sie um 14.43 Uhr auf, friedlich zu bleiben und die Sicherheitskräfte zu unterstützen. Denn die stünden auf ihrer Seite. Eine halbe Stunde später twittert er dann erneut: „No violence“, keine Gewalt. Die Republikaner seien doch die Partei von „Law and Order“. Die randalierenden Trump-Fans vor und in dem Kongress, die zuvor noch mit Schlachtrufen wie „Scheiß-Antifa“ durch die Straßen gezogen sind, könnten diese Aussage nicht klarer widerlegen. Aber es dauert, bis Trump sich selbst zeigt.
Schneller und entschieden eindeutiger ist Joe Biden. Der gewählte Präsident fordert die Demonstranten auf, den „Aufruhr“ sofort zu beenden. „Zu dieser Stunde wird unsere Demokratie beispiellos angegriffen“, sagt Biden und dass er „wirklich schockiert und traurig“ sei, dass unsere Nation – so lange Leuchtfeuer und Hoffnung für Demokratie – an so einem dunklen Moment angekommen ist“. Aber er sagt auch, das amerikanische Volk sei besser als dies. „Die Szenen des Chaos am Kapitol spiegeln nicht das wahre Amerika wider, stehen nicht für das, wer wir sind.“
Die Unruhen dauern an, am späten Nachmittag teilt eine Sprecherin des Weißen Hauses dann mit, dass Trump die Nationalgarde nach Washington schicke. Später stellt sich heraus, dass es Vizepräsident Pence war, der den Einsatz der Nationalgarde anordnete. Um 16 Uhr werden alle Demonstranten aufgefordert, das Gelände rund um das Kapitol sofort zu räumen. Die lassen sich damit zwar zunächst Zeit. Da aber die meisten nicht aus Washington direkt kommen, könnte sich zumindest in der Hauptstadt die Lage in der Nacht beruhigen. Die Lage der Nation bleibt dagegen angespannt.