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Die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen
© Reuters/Kacper Pempel

Wahl von der Leyens zur EU-Kommissionschefin: „Würgegriff der Staats- und Regierungschefs“

Der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann hadert immer noch mit der Wahl von Ursula von der Leyen. Er kritisiert eine „Übergriffigkeit der Regierungschefs“.

Herr Bullmann, das EU-Parlament hat in der vergangenen Woche Ursula von der Leyen zur künftigen Kommissionschefin gewählt. Bereuen Sie es im Nachhinein, dass Sie mit „Nein“ gestimmt haben?

Nein, da gibt es nichts zu bereuen. Im Gegenteil. Wir sozialdemokratischen Abgeordneten hatten uns verpflichtet, für den Wählerwillen zu kämpfen, dem zufolge ein Spitzenkandidat oder eine Spitzenkandidatin an die Spitze der EU-Kommission rückt.

Es ist auch die Chance vertan worden, Frans Timmermans zum Präsidenten der Kommission zu wählen. Wäre es im Kreis der Staats- und Regierungschefs zu einer Abstimmung gekommen, hätte er eine qualifizierte Mehrheit gehabt. Die Visegrád-Staaten und Italien hätten dies nicht blockieren können.

Nun haben aber am Ende die Staats- und Regierungschefs Frau von der Leyen nominiert. Hat das EU-Parlament in dem Personalpoker an Macht eingebüßt?

Es wäre besser gewesen, wenn sich das Europaparlament zwischendurch mit den Staats- und Regierungschefs darüber abgesprochen hätte, wie man weiter vorgeht. So ist es auch eigentlich vorgesehen. Der EU-Vertrag sieht vor, dass die Staats- und Regierungschefs nach Konsultationen mit dem Europaparlament einen Vorschlag unterbreiten. Von einem Verfahren nach dem Motto "Friss oder stirb" ist dort keine Rede. Ich hätte mir gewünscht, dass es eine Verhandlungspause im Europäischen Rat gegeben hätte und dass die maßgeblichen Fraktionen im Europaparlament konsultiert worden wären.

Der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann ist Koordinator der sozialdemokratischen Fraktion im Straßburger Entwicklungsausschuss.
Der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann ist Koordinator der sozialdemokratischen Fraktion im Straßburger Entwicklungsausschuss.
© picture alliance / Christoph Soe

Allerdings hat es sich das EU-Parlament auch selbst zuzuschreiben, dass es in dem Machtpoker ausgebootet wurde. Denn die Abgeordneten aus Straßburg konnten sich auf keinen der Spitzenkandidaten einigen, die zuvor im Europawahlkampf angetreten waren.

Das sehe ich nicht so. Wir haben gleich nach der Wahl unter den Fraktionsvorsitzenden vereinbart, mit inhaltlichen Gesprächen über den Kurs der EU-Politik in den kommenden fünf Jahren zu beginnen. Diese Gespräche waren auch weit gediehen. Man hätte dann auch im Dialog mit den Staats- und Regierungschefs Mehrheiten finden können, die durch das EU-Parlament breit abgesichert sind. So aber haben wir es nach der Wahl von Frau von der Leyen mit lauter ungedeckten Schecks zu tun. Sie hat zwar im Europaparlament eine interessante und freundliche Rede gehalten. Aber alles, was sie ansagt, passiert im luftleeren Raum. Dagegen hätten die Vereinbarungen zwischen den Fraktionen die Basis für die zukünftige europäische Gesetzgebung gelegt. Das ist der maßgebliche Unterschied. Deshalb hat der Prozess jetzt gravierende Schwächen.

Kanzlerin Merkel hat vor der Wahl von der Leyens bei den übrigen Staats- und Regierungschefs der EU sondiert, was Abgeordnete aus den jeweiligen Ländern dazu beitragen können, um einen Erfolg der CDU-Politikerin sicherzustellen. Wie bewerten Sie das Prozedere?

Wir stehen vor großen Herausforderungen in Europa. Und wir brauchen ein starkes, unabhängiges, europäisch denkendes Europaparlament. Wenn man über die Schiene der Staats- und Regierungschefs Mehrheiten organisiert, dann bringt das lediglich kurzfristige Erfolge. Aber langfristig wird sich die Übergriffigkeit der Regierungschefs auf die europäischen Parlamentsfraktionen rächen.

Von der Leyen konnte im Europaparlament vor allem auf die Stimmen der neuen liberalen Fraktion „Renew Europe“ bauen. Wie unabhängig ist deren Fraktionschef Dacian Ciolos vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, von dem die Idee zur Nominierung der CDU-Politikerin stammt?

Ciolos’ Vorgänger im Fraktionsvorsitz, der ehemalige belgische Regierungschef Guy Verhofstadt, hätte sich sicherlich nicht von den Staats- und Regierungschefs irgendwelche Personalpakete vorschreiben lassen. Verhofstadt gehörte zu denen, die sich für unsere inhaltliche Vereinbarung im Europaparlament besonders eingesetzt haben. Deshalb hat die liberale Fraktion an Eigenständigkeit und europäischer Identität eingebüßt.

Sie selbst mussten im Juni an der Spitze der sozialdemokratischen Fraktion für die Spanierin Iratxe Garcia Perez weichen. Sie kritisierten damals, dass die Debatte um den Fraktionsvorsitz zu sehr unter nationalstaatlichen Gesichtspunkten geführt worden sei. Was meinten Sie damit?

Ich habe mich dazu entschieden, meine Kandidatur über den Fraktionsvorsitz kurz vor der Entscheidung zurückzuziehen, weil ich nicht Vorsitzender einer Fraktion sein kann, in der nationale Einflusszonen derart bestimmend werden. Ganz sicher hat Spaniens Regierungschefs Pedro Sanchez versucht, hier Mehrheiten zu bilden – auch über seinen Einfluss bei den Staats- und Regierungschefs. Ich bin Pedro Sanchez und der spanischen Regierungspartei PSOE seit Langem verbunden. Wir werden auch weiterhin für dieselben Ziele kämpfen. Aber die Fraktion muss nach einer unabhängigen europäischen Methode geführt werden. Ansonsten kann sie ihrer Aufgabe als Motor der europäischen Sozialdemokratie nicht gerecht werden.

Unterm Strich kann man also sagen, dass die Hauptstädte mehr Einfluss auf die Politik der Europaparlamentarier nehmen als bisher?

Das werden wir sehen. Ich habe mich für eine andere Rolle entschieden. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen für das Jahr 2030 zum Kompass unserer Arbeit machen. Ich habe das in den vergangenen zweieinhalb Jahren für die innenpolitischen Felder der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik vorangetrieben. Das möchte ich künftig im Bereich der Entwicklungspolitik, wo ich Koordinator geworden bin, und bei der internationalen Handelspolitik weiter verfolgen. Wir müssen endlich kapieren, dass alle großen politischen Themen nur global erfolgreich angepackt werden können. Da mangelt es, in Deutschland und in der EU, und daran will ich arbeiten.

Wie wird die Fraktion der Sozialdemokraten künftig mit der neuen EU-Kommissionschefin von der Leyen zusammenarbeiten?

Wir werden natürlich mit der EU-Kommission und mit Frau von der Leyen an der Spitze konstruktiv zusammenarbeiten, weil sich die europäischen Institutionen gemeinsam für die Interessen der EU-Bürger einsetzen müssen. Die Frage ist nur, ob sich Frau von der Leyen aus dem Würgegriff der Staats- und Regierungschefs befreien kann und tatsächlich neue Akzente setzen wird. Es wird abzuwarten sein, ob sie hinter das zurückfällt, was der gegenwärtige Kommissionschef Jean-Claude Juncker erreicht hat. In diesem Fall würden wir uns wiederfinden in der bleiernen Zeit des früheren Kommissionschefs José Manuel Barroso. Damals fragte die Kommission bei den Hauptstädten permanent nach, wie weit sie denn bei bestimmten Vorhaben gehen dürfe.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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