54. Tag im NSU-Prozess: Wortkarge Zeugin bringt Zeitplan durcheinander
Sechs Stunden lang wurde am Dienstag die Zeugin Silvia S. verhört. Doch die Befragung erwies sich schnell als wenig ergiebig. Der von den Richtern aufgestellte Zeitplan für November gerät immer mehr durcheinander. Denn eigentlich hätten heute auch noch die mit Spannung erwartete Mutter des NSU-Mörders Uwe Böhnhardt sowie Mandy S. aussagen sollen.
Die Zeugin wirkte schlicht, aber offenbar hinreichend bauernschlau, um sich extra naiv zu geben. Sie habe sich „wirklich keine Gedanken gemacht“, was mit ihrer für 300 Euro weggegebenen AOK-Karte geschehen werde, beteuerte Silvia S. am Dienstag im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Die Versichertenkarte hatte der Angeklagte Holger G. im Jahr 2006 Silvia S. abgekauft. Den Krankenkassenausweis gab Holger G. nach eigenem Geständnis an Beate Zschäpe weiter. Die mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt untergetauchte Frau hatte offenbar Zahnschmerzen und soll die Karte für Arztbesuche genutzt haben. Silvia S. meldete die Karte erst ein bis zwei Wochen nach dem Verkauf an Holger G. bei der AOK als verloren und erhielt eine neue. Sie hätte aber niemals die Karte „für diese Beate“ gegeben, wäre ihr klar gewesen, in was für einen Prozess sie geraten würde, sagte Silva S. nun dem 6. Strafsenat.
Obwohl die Zeugin von „Beate“ sprach, will sie bis zum Auffliegen des NSU im November 2011 nicht gewusst haben, für wen und was Holger G. die AOK-Karte benötigte. Die mit einem zumindest ehemals rechtsextremen Skinhead verheiratete Silvia S. verneinte auch, für Zschäpe weitere Dokumente überlassen zu haben. Die Polizei hatte im Brandschutt des von Zschäpe am 4. November 2011 angezündeten Hauses in Zwickau unter anderem auch einen Bibliotheksausweis und einen „Brillenpass“ gefunden, die auf den Mädchennamen der Zeugin ausgestellt sind. Sie kenne diese Ausweise nicht, sagte Silvia S.
Polizeigeschichte von Holger G. wirft Fragen auf
Bei der langen Vernehmung der Zeugin, die vom Mittag bis zum Abend dauerte, kam außerdem eine Polizeigeschichte zu Holger G. zum Vorschein, die Fragen aufwirft. Möglicherweise konnte der Angeklagte im Sommer 2012 mit Hilfe von Beamten Absprachen mit Silvia S. und ihrem Mann für den bevorstehenden NSU-Prozess treffen.
Der im November 2011 als mutmaßlicher Unterstützer des NSU festgenommene Holger G. kam im Mai 2012 aus der Untersuchungshaft frei. Wegen seines Geständnisses und der befürchteten Rache der rechten Szene wurde G. in ein Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamts aufgenommen. Im Sommer 2012 begleiteten ihn dann Beamte in Zivil zu einem Treffen mit Silvia S. und ihrem Ehemann. Laut Silvia S. waren die Polizisten bei dem Gespräch in einer Gaststätte nicht dabei, nahmen aber anschließend Holger G. wieder mit. Der Angeklagte wird an geheim gehaltenen Orten untergebracht.
Bei dem Treffen habe sich Holger G. dafür entschuldigt, dass er sie über die AOK-Karte in die NSU-Sache „reingebracht hat“, sagte Silvia S. Er soll zudem gesagt haben, dass er „vom Ganzen auch nichts wusste, was gerade in den Medien ist“. Mit dem „Ganzen“ waren die bekannt gewordenen Verbrechen der Terrorzelle gemeint.
Zeitplan für NSU-Prozess gerät mehr und mehr durcheinander
Diese Angaben von Silvia S. stützen die Aussage des Angeklagten, er habe Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe geholfen, ohne jede Kenntnis von den Morden, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen des NSU. Offen bleibt allerdings, ob Aussagen zugunsten von Holger G. bei dem Treffen im Sommer 2012 mit Silvia S. und ihrem Mann, der auch im Prozess als Zeuge geladen ist, abgesprochen worden sind.
Anwälte von Hinterbliebenen der Mordopfer des NSU sind jedenfalls konsterniert, dass sich der vom BKA beschützte Angeklagte mit Zeugen treffen konnte - zumal der Ehemann von Silvia S. jahrelang in der rechtsextremen Szene aktiv war. Der Hamburger Nebenklage-Anwalt Thomas Bliwier beantragte, der Strafsenat solle dienstliche Erklärungen der Polizisten einholen, die Holger G. damals begleitet hatten. Bliwier vertritt mit Kollegen die Familie des 2006 in Kassel erschossenen Deutschtürken Halit Yozgat. Für die Bundesanwaltschaft erwiderte Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, „ein in Freiheit lebender Bürger kann sich treffen, mit wem er will“. Da gäbe es nichts aufzuklären. Dem Antrag Bliwiers schlossen sich jedoch mehrere Anwälte von Nebenklägern an
Trotz der mehr als sechs Stunden dauernden und meist wenig ergiebigen Befragung will der Strafsenat Silvia S. erneut als Zeugin hören. Der von den Richtern aufgestellte Zeitplan für November gerät allerdings immer mehr durcheinander. Die von Prozessparteien und Medien mit Spannung erwartete Mutter des NSU-Mörders Uwe Böhnhardt konnte am Dienstag wegen der Vernehmung von Silvia S. nicht aussagen. Auch der Auftritt der ebenfalls geladenen Mandy S. fiel aus. Die Frau aus Sachsen soll Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in den ersten Wochen nach dem Gang in den Untergrund eine Wohnung beschafft haben. Die Bundesanwaltschaft führt Mandy S. als eine der Beschuldigten im NSU-Komplex.