zum Hauptinhalt
Wohin driftet die Insel?
© Nadalina - Fotolia. Montage: Streuber

Nach dem Brexit-Votum: Wohin driftet Großbritannien?

Die negativen Nachrichten von der Insel häufen sich. Die Zentralbank hat jetzt auch den Leitzins gesenkt. Und die Regierung von Theresa May scheint ihre Linie noch nicht gefunden zu haben. Ein Überblick.

Der Sommer 2016 wird in die Geschichte eingehen als eine der turbulentesten Zeiten, welche Großbritannien nach 1945 erlebt hat: das Brexit-Votum vom 23. Juni, ein irrwitziger Machtkampf in der Konservativen Partei, an dessen (vorläufigem) Ende Theresa May den zurückgetretenen David Cameron als Premier ersetzte, schließlich eine Regierungsumbildung, die radikal war wie selten eine zuvor. Und im Begleitprogramm begann sich die Labour Party zu zerlegen. Der Blick auf das Referendumsergebnis offenbarte eine politisch, sozial und regional gespaltene Nation. Und wo steht das Land jetzt, einige Wochen nach der historischen Entscheidung? Wohin driftet die Insel? Wie geht es weiter in „Brexitannien“?

Wie sehen die wirtschaftlichen Daten aus?

Die vorausgesagte Eintrübung der Wirtschaftslage hat begonnen. Das Verbrauchervertrauen ist laut einer GfK-Erhebung aus der Vorwoche weitaus stärker gesunken als erwartet – es war der stärkste Einbruch seit 1990. Am Montag sauste der Stimmungsindikator des Markit-Instituts für das verarbeitende Gewerbe nach unten: Die Vorzeichen für Produktion, Neuaufträge und Beschäftigung sind negativ. Am Dienstag fiel der Markit-Indikator für die Baubranche weiter, nachdem er im Juni massiv eingebrochen war. Und am Mittwoch ging auch der Indikator für die Dienstleistungsbranche auf Tauchstation - der wichtigste Sektor der britischen Wirtschaft schrumpft ebenfalls Das Stimmungsminus gegenüber Juni war das heftigste seit der Einführung der Messung vor zwanzig Jahren. Insgesamt deuteten die Zahlen auf ein Wachstum von minus 0,4 Prozent im laufenden Quartal, rechnete der Chefökonom von Markit vor.

In London und einigen Großstädten sind die Immobilienpreise schon seit Monaten im Fallen, was sich offenbar jetzt noch beschleunigt. Der boomende Wohnungsmarkt ist für den jahrzehntelangen Aufschwung seit den 80er Jahren einer der wichtigsten Grundlagen gewesen – bricht er jetzt ein, dann dürfte sich der Abwärtstrend deutlich verstärken. Vieles deutet also auf eine Rezession hin, es wäre die erste seit 2009. Am Donnerstag senkte die Bank of England, wie erwartet, den Leitzins – statt bei 0,5 Prozent (schon seit 2010) liegt er nun bei 0,25 Prozent. Die Frage ist freilich, wie stark eine solch geringe Reduzierung überhaupt wirksam sein kann. Überraschend nahm die Zentralbank auch wieder ihr Anleihen-Aufkaufprogramm auf. Dass das Pfund gegenüber dem Dollar und dem (von vielen Brexitern als Schwach- und Lachwährung verachteten) Euro nach dem Austrittsvotum deutlich nachgab (und am Donnerstag noch weiter abrutschte), macht zwar Exporte billiger und dürfte das immense Handelsbilanzdefizit verringern. Aber Importe werden teurer und könnten die Preise treiben, was den Konsum, bisher ein Wachstumsfaktor, dämpfen würde. Wobei dieser Konsum mit einer relativ hohen Privatverschuldung einhergeht. Kurzum: Großbritannien geht das Brexit-Abenteuer nicht aus einer Position der ökonomischen Stärke an.

Welche Politik verfolgt Theresa May?

Die Linie von May und ihrer Regierung ist innen- wie außenpolitisch allenfalls in Umrissen erkennbar. Zwar wiederholt die Premierministerin tapfer ihren Slogan: „Brexit heißt Brexit, und wir machen einen Erfolg daraus.“ Aber die Treffen mit ihren Kollegen in Berlin, Paris, Rom, Warschau und Bratislava seit Mitte Juli brachten keine konkreten Hinweise, wohin es unter May gehen soll. Zuletzt deutete sie immerhin an, dass London ein Abkommen mit der EU anstreben könnte in einer Form, „die nicht notwendigerweise schon auf dem Tisch liegt“. Das würde bedeuten, dass weder das norwegische Modell (voller Zugang zum Binnenmarkt, Einzahlung in die EU-Fonds und Anerkennung aller Regeln samt Freizügigkeit, ohne diese mitbestimmen zu können) noch das Schweizer Modell (ein eingeschränkter Zugang durch Sonderabkommen) noch das Kanada-Modell (nur ein Freihandelsabkommen, also keine Einbindung in den Binnenmarkt) für May als Vorbild dienen. Ein Knackpunkt aus britischer Sicht ist die Freizügigkeit: Zuwanderung aus der EU will May zwar nicht stoppen, aber „kontrollieren“. Ein Brüsseler Zugeständnis hier würde wohl eine Beschränkung des Zugangs der britischen Finanzbranche zum Binnenmarkt bedeuten – mit Folgen für den britischen Staatshaushalt, denn Banken, Vermögensverwalter und Versicherungen sind der große Geldbringer auf der Insel. Mays Verhandlungsposition ist insgesamt die schwächere: Die Hälfte des britischen Handelsvolumens geht in die EU, umgekehrt sind es nur sieben Prozent.

Wie gut ist die neue Regierung in London für die Verhandlungen aufgestellt?

Es könnte besser sein, wie sich in den vergangenen Tagen zeigte. Chefverhandler mit der EU, außer May selbst, ist David Davis, der Minister für den Ausstieg aus der EU. Er ist ein knallharter EU-Gegner, der die vergangenen Jahre als Hinterbänkler im Parlament verbracht hat. Sein Ministerium ist erst im Aufbau, es besteht bisher vor allem aus Beamten, die zuvor im Foreign Office oder im Wirtschaftsressort für die Kontakte nach Brüssel zuständig waren. Die meisten von ihnen dürften Austrittsgegner sein. Die EU-Regierungschefs wollen zwar Geduld zeigen, was den Zeitpunkt für den Austrittsantrag betrifft, erwarten aber dann konkrete Vorstellungen, wie das Verhältnis Großbritanniens zur EU künftig aussehen soll. Scheidung und Neubeziehung sollen parallel verhandelt werden. Das muss Davis mit seinem Kleinressort leisten. Schon die Vorbereitung des Austritts ist freilich ein Kraftakt für eine Regierung, die darauf praktisch nicht vorbereitet ist. Doch neben dem Austrittsabkommen muss es wohl Übergangsregelungen geben, denn viele Experten gehen davon aus, dass die Verhandlungen über die Beziehungen nach dem Austritt länger dauern werden. Zudem muss Großbritannien sämtliche Handelsabkommen mit EU-Partnerländern neu verhandeln und zudem die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, etwa der Welthandelsorganisation. Das soll Liam Fox leisten, der neue Minister für internationalen Handel, auch er ein Brexit-Hardliner. Bisher hat er das als eher leichte Aufgabe abgetan. Er versprach, dass neue bilaterale Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt zügig ausgehandelt werden könnten, damit die lähmende Phase der Unsicherheit nach dem Austrittsantrag möglichst kurz ist. Doch Fox musste vorige Woche in Washington erleben, dass die US-Regierung zwar für solche Vereinbarungen offen ist, sich aber keineswegs an dem von Fox beabsichtigten Rechtsbruch beteiligen will. Denn solange Großbritannien Mitglied der EU ist, kann London bilaterale Handelsverträge weder verhandeln noch abschließen. Das teilte der US-Handelsbeauftragte Mike Froman dem britischen Handelsminister freundlich, aber bestimmt mit. Und aus Kanada, mit dessen Regierung sich Fox schon auf dem Weg zu „fruchtbaren“ Handelsgesprächen sah, kam der Hinweis, der Ceta-Vertrag mit der EU habe Vorrang. Außenminister Boris Johnson soll derweil global für gute Stimmung sorgen und so den Verlust an Einfluss in Brüssel und den wichtigsten Hauptstädten kompensieren, der sich aus dem Austritt ergibt. Dass May die drei obersten Brexiter in ihren neuen Ämtern erst einmal mit der komplexen Realität konfrontieren möchte, um sie dann zur Vernunft zu rufen, ist eine Spekulation. Als Fox vorige Woche den Austritt Großbritanniens aus der EU-Zollunion ankündigte, pfiff seine Chefin ihn jedenfalls umgehend öffentlich zurück. May ließ offen, ob ihre Regierung diesen Schritt gehen will, und stellte klar, dass Fox mit den EU-Verhandlungen nicht betraut ist.

Welche innenpolitischen Herausforderungen muss May meistern?

May hat erkannt, dass das Brexit-Votum auch soziale Ursachen hatte. Die gesellschaftliche Ungleichheit ist in Großbritannien größer als in den meisten anderen EU-Ländern. Dazu gehörte der Widerspruch zwischen massivem Reichtum in London und im Süden und dem Gefühl des Abgehängtseins vor allem im Norden Englands, der wohl letztlich den Ausschlag beim Referendum gegeben hat. Und die Reallöhne auf der Insel sind zwischen 2007 und 2015 nach einer Gewerkschaftsstudie um zehn Prozent gefallen - nur Griechenland schnitt hier unter den EU-Ländern schlechter ab. Ärmere trifft eine solche Entwicklung natürlich härter, aber die Folgen reichen bis weit in die Mittelschicht. Und dort wo die Löhne am längsten stagnierten, war auch die Anti-EU-Stimmung (und die gegen Ausländer) am kräftigsten.

Die gewachsene soziale Spaltung seit Beginn der Finanzkrise will May nun angehen. Ihre ersten Andeutungen gingen in Richtung einer sozialeren Marktwirtschaft: Arbeitnehmermitbestimmung in größeren Betrieben, Regulierung der Topeinkommen in der Finanzbranche, mehr staatliche Förderung im Wohnungsbau für sozial Schwache. Freilich könnte das den Tories wieder ideologische Konflikte bescheren – denn der Flügel um die Brexit-Hardliner vertritt auch ausgesprochen marktradikale Vorstellungen, die ein Großteil der Parteibasis unterstützt. Zudem plant May eine Industrieoffensive, um Großbritannien wettbewerbsfähiger zu machen. Dabei denkt man in London vor allem an die Förderung neuer Technologien. Dass die erfolgreiche Halbleiter- und Softwarefirma ARM gerade vom japanischen IT-Konzern Softbank übernommen wird, gestützt vom Kursverfall des Pfundes, war da keine gute Nachricht. Ein zweiter Punkt ist das Zuwanderungsrecht. Da viele Leave-Anhänger mit dem Austritt eine deutliche Verringerung der Migration ins Königreich verbinden, sind die Erwartungen gerade an der Tory-Basis hoch. Auch dürfte der Aufschwung für die Konservativen in den Umfragen im Juli damit zusammenhängen, dass viele Wähler nun eine harte Linie der Regierung erwarten. Doch kann May auch hier erst handeln, wenn die Gespräche mit der EU fortgeschritten sind und Klarheit besteht über das Maß an Einbindung in den Binnenmarkt und damit auch über die Art und den Umfang der Zuzugsberechtigung für EU-Bürger in Großbritannien. Das schafft Enttäuschungspotenzial. Mays dritte innenpolitische Aufgabe ist es, den regionalen Zusammenhalt zu garantieren. Beim Referendum haben die Schotten und die Nordiren mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nutzt das, um Stimmung für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zu machen. Sie will eine möglichst tiefe Einbindung Schottlands in den EU-Binnenmarkt. Ähnliches gilt für die Regionalregierung Nordirlands. Die ist sich mit der Regierung der irischen Republik darin einig, dass ein EU-Austritt die innerirische Grenze nicht weniger durchlässig machen darf. Die Freizügigkeit gilt als einer der Gründe und Stabilisatoren für den irischen Friedensprozess. So muss May Rücksicht nehmen auf die EU-freundlichen Interessen in Edinburgh, Belfast und auch Dublin. Stellt sie es geschickt an, kann sie diese gegen die Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Regierung nutzen – im schlechteren Fall verschärfen die Regionalkonflikte die politische Spaltung des Landes noch.

Wie steht die Opposition da?

Die konservative Mehrheit im Parlament ist mit zehn Sitzen nur knapp. Dass Labour durch das Referendum noch kräftiger durchgerüttelt wurde als die Tories, kommt May also entgegen. Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten war gegen den Austritt, unterschätzte aber, wie stark in Labour-Regionen das Brexit-Verlangen war. Parteichef Jeremy Corbyn, als Linker kein Freund der EU (sie ist ihm zu neoliberal), warb zwar für den Verbleib. Doch machten ihm viele Parteifreunde den Vorwurf, zu passiv gewesen zu sein. Der Streit schaukelte sich hoch: Die meisten Mitglieder des Schattenkabinetts traten urück, nun steht eine Neuwahl des Parteichefs an. Corbyns Gegner wollen Labour als Mitte-Partei positionieren, auch wenn sie keine ausgesprochenen „Blairites“ mehr sind, also Anhänger des früheren Premiers Tony Blair. Der gilt mitsamt seinem „dritten Weg“  an der Parteibasis nicht mehr viel, deren Held ist Corbyn. Der Versuch, ihn als Kandidaten bei der Urabstimmung auszuschließen, misslang. Ob sein Gegner Owen Smith ihn bei der Urabstimmung im Herbst schlagen kann, ist ungewiss. In jedem Fall ist Labour auf Monate hinaus mit sich selbst beschäftigt und damit keine schlagkräftige Opposition. Im schlimmsten Fall führt der Machtkampf zur Spaltung der Partei, wie 1981, als sich die Social Democratic Party gründete. Die europafreundlichen Liberaldemokraten wiederum wurden bei der letzten Unterhauswahl übel gerupft und sind derzeit kein Machtfaktor. Von Linken und Liberalen hat May derzeit also wenig zu fürchten.

Zur Startseite